Russlands Rolle als Vermittler zwischen Armenien und Aserbaidschan im Konflikt um Berg-Karabach und das totale Scheitern der russischen Friedensmission sind die Hauptthemen des Artikels der führenden armenischen Außenpolitikexpertin Sossi Tatikyan. Als Spezialistin für internationale Beziehungen hat sie über viele Jahre mit einer Reihe von UN-, EU- und OSZE-Missionen zusammengearbeitet. In ihrem Artikel für OSTWEST MONITORING analysiert Sossi Tatikyan Russlands Mitwirkung in Berg-Karabach: vom Verhandlungsprozess bis hin zur ethnischen Säuberung der armenischen Bevölkerung im September 2023.
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Nach seiner Militäroffensive in Berg-Karabach und der darauffolgenden ethnischen Säuberung im September 2023 hat Aserbaidschan die Kontrolle über die Hauptstadt Stepanakert übernommen. Es schaffte den seit drei Jahrzehnten existierenden De-facto-Staat Arzach ab. Die Status-quo-Politik Armeniens und seine Abhängigkeit von Russland in Sicherheitsfragen konnten Berg-Karabach und Armenien 2020 nicht vor dem Krieg und seinen Folgen bewahren.
Russland gehörte zusammen mit den USA und Frankreich zu den Mitgliedern der Minsker Gruppe der OSZE, dem offiziellen Vermittlungsgremium für die Lösung des Konflikts um Berg-Karabach. Doch nach Ansicht vieler Politikexperten war Russland nicht an einer Lösung interessiert: Der schwelende Konflikt ermöglichte vielmehr, den russischen Einfluss und Russlands Präsenz in der Region aufrechtzuerhalten. Die Minsker Gruppe der OSZE bot mehrere Lösungen zur Beilegung des Konflikts an. Dazu zählten die Entsendung von internationalen Friedenstruppen zum Schutz der armenischen Zivilbevölkerung, die Gewährung eines Interimsstatus für Berg-Karabach und sogar ein Referendum über den endgültigen Status von Arzach. Die meisten dieser Vorschläge wurden jedoch entweder von Aserbaidschan oder von Armenien abgelehnt. Aserbaidschan begann, seine Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft in die Rüstungsindustrie zu investieren und sich auf einen neuen Krieg vorzubereiten, der 2005 begann. [1] Armenien zeigte ebenfalls keinen großen Eifer, diese Vorschläge umzusetzen, da es nach seinem Sieg im Ersten Bergkarabach-Krieg offensichtlich vom Status quo profitierte.
Russlands Rolle im Karabach-Krieg von 2020 und seine Untätigkeit bei Verstößen gegen den Waffenstillstand in der Nachkriegszeit
Im November 2020 führte Russland ein trilaterales Waffenstillstandsabkommen mit Armenien und Aserbaidschan unter Ausschluss von anderen Co-Vorsitzenden (USA und Frankreich) der Minsker Gruppe der OSZE herbei und richtete einseitig – ohne ein internationales Mandat dafür zu erhalten – eine russische Friedensmission in Berg-Karabach ein.
Nach dem Ende der militärischen Auseinandersetzungen intensivierte Russland seinen hybriden Krieg in Armenien und nutzte die dortige illiberale Opposition mit Verbindungen zu früheren Machthabern, um falsche Narrative zu verbreiten. So wurde behauptet, dass der Westen die Samtene Revolution in Armenien herbeigeführt hätte, um die Widerstandskraft des armenischen Volkes bzw. die nationale Sicherheit Armeniens durch falsche Werte der westlichen Demokratie zu schwächen, und um dadurch die Preisgabe von Berg-Karabach zu erleichtern. Zudem wurde auch die Frustration der liberalen Kreise in Armenien ausgenutzt, die sich aufstaute durch die Untätigkeit des Westens bzw. die Politik der Gleichwertigkeit der Konfliktparteien – angewandt von den USA und der EU während des Krieges von 2020 und danach. Infolgedessen haben sich illiberale Gruppierungen darauf fokussiert, dass es Russland war, das ein Waffenstillstandsabkommen vermittelte und ein Friedenskontingent entsandte, während der Westen entweder pro-aserbaidschanisch oder gleichgültig blieb. Einerseits wurde behauptet, dass Russland die Schutzmacht sei, die den Krieg beendet habe; andererseits sah man den Grund für diesen Krieg und die Niederlage Armeniens in der vorausgegangenen Verschlechterung der Beziehungen zu Russland. Doch in den liberalen Kreisen ist auch weitgehend die Meinung verbreitet, dass Russland – um seine militärische Präsenz in der Region auszubauen – zunächst Aserbaidschan erlaubte, den Krieg zu beginnen und ihn anschließend so lange zu führen, bis die armenische Seite unverhältnismäßig hohe Verluste erlitten hatte.
Einen Monat nach der Waffenstillstandsvereinbarung duldeten bereits die russischen Friedenstruppen die Verletzungen des Waffenstillstandes durch die aserbaidschanischen Streitkräfte. Im Dezember 2020 verhinderten die russischen Friedenstruppen nicht die Einnahme der beiden letzten armenischen Dörfern in der Region Hadrut – Khtsaberd (Çaylaqqala) und Hin Tagher (Köhnə Tağlar) – und die Einnahme des Klosters Katarowank auf einem strategisch wichtigen Berggipfel. Dabei gerieten auch Dutzende armenischer Militärangehörigen in Gefangenschaft: Einige von ihnen wurden erst im November 2023 freigelassen.
Ab Februar 2021 untersagten die russischen Friedenstruppen internationalen Journalisten, Vertretern von Nichtregierungsorganisationen und Diaspora-Armeniern ohne armenische Staatsbürgerschaft die Einreise nach Berg-Karabach und verwandelten damit dieses Gebiet schrittweise in eine Blackbox. Darüber hinaus wurden die regelmäßigen aserbaidschanischen Provokationen entlang der Kontaktlinie nicht verhindert, bei denen mehrere Zivilisten getötet wurden. Auch hinderten die russischen Friedenstruppen Aserbaidschan nicht daran, rund um Berg-Karabach militärische Infrastruktur aufzubauen.
Trotz des Beschlusses des Internationalen Gerichtshofs, der den Schutz des armenischen Kulturerbes in Berg-Karabach angemahnt hatte, wurde von den russischen Friedenstruppen nichts unternommen, um die Zerstörung bzw. Inbesitznahme der armenischen Kulturgüter (wie etwa das Kloster von Dadiwank, oder die Kathedrale in Schuscha) auf den Territorien unter aserbaidschanischer Kontrolle in und um Berg-Karabach zu unterbinden.
Russlands Mitwirkung an Seite von Aserbaidschan bei der schleichenden ethnischen Säuberung
Seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine ermöglichte die zunehmende Untätigkeit der russischen Friedenstruppen in Berg-Karabach der aserbaidschanischen Seite noch einfacher gegen das Waffenstillstandsabkommen zu verstoßen. Dieser Zustand entfachte eine Debatte darüber, ob Russland – abgelenkt durch den Krieg in der Ukraine – nicht mehr imstande, oder – aufgrund der Verschiebung seiner geopolitischen Interessen –nicht mehr dazu bereit war, Armenier in Berg-Karabach zu schützen.
Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, dass Russland und Aserbaidschan am 22. Februar 2022 eine Erklärung über die Alliierte Interaktion zwischen der Republik Aserbaidschan und der Russischen Föderation unterzeichneten, womit die Partnerschaft zwischen beiden Ländern offiziell in den Rang eines Bündnisses erhoben wurde. Das umfangreiche Dokument enthielt unter anderem Bestimmungen zur Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen. Ebenfalls 2022 unterzeichnete Aserbaidschan außerdem einen Vertrag mit dem russischen Konzern Gazprom, um seinen Verpflichtungen zur Gasversorgung der EU nachzukommen. Doch tatsächlich leitete Aserbaidschan dank dieser Vereinbarung – als Europas Alternative zu russischen Energielieferungen – einfach das russische Gas zu einem höheren Preis nach Europa weiter. [2] Eine Woche nach der russischen Invasion in der Ukraine begann Aserbaidschan mit verschiedenen Mitteln der psychologischen Kriegsführung – unter anderem durch Beschuss und Abstellen des Gases bei eisigen Temperaturen – die Lebensbedingungen in Berg-Karabach unerträglich zu machen. Ungehindert vom russischen Friedenskontingent wurden das Dorf Paruch und der strategisch wichtige Berggipfel Karagluch vom aserbaidschanischen Militär eingenommen. Gleichzeitig enthielt sich Armenien bei der Abstimmung über die Resolution der UNO-Vollversammlung zur Ukraine – Berichten zufolge ungeachtet des Drucks aus Moskau: Dies war das erste Mal, dass Armenien nicht auf einer Linie mit Russland lag.
Im August 2022 haben russische Friedenstruppen eine militärische Eskalation und die Einnahme von neuen strategischen Gipfeln im Latschin-Korridor durch die aserbaidschanischen Streitkräfte im Rahmen der Militäroperation Revenge (dt.: Vergeltung) nicht verhindert. Danach zwang das aserbaidschanische Militär die Regierung von Berg-Karabach, die im trilateralen Waffenstillstandsabkommen vorgesehene Bestimmungen bereits eineinhalb Jahre vor der vereinbarten Frist umzusetzen und die Verbindungsroute von Berg-Karabach nach Armenien zu ändern. Es kam auch zu Vertreibungen: Armenier aus dem anliegenden Ort Aghavno (Zabuch) wurden gezwungen, nach Armenien umzuziehen. Darüber hinaus begannen russische Friedenstruppen im Sommer 2022 armenischen Politikern und Journalisten die Einreise nach Berg-Karabach zu erschweren.
Im Dezember 2022 erreichte die Situation in Berg-Karabach einen neuen dramatischsten Höhepunkt: Damals blockierten angebliche Umweltaktivisten aus Aserbaidschan den Latschin-Korridor aus Protest gegen die Ausbeutung von Minen in Berg-Karabach, ohne dass russische Friedenstruppen sie daran hinderten. Bei dieser Blockade wurden zunehmend ultranationalistische Symbole und andere Mittel der psychologischen Kriegsführung gegen die armenische Bevölkerung eingesetzt. Statt dies zu unterbinden gingen die russischen Friedenstruppen hart gegen die gelegentlichen, friedlichen Proteste der Zivilbevölkerung von Berg-Karabach gegen diese Blockade vor und lösten diese auf. Ungeachtet der im Februar 2023 erlassenen einstweiligen Verfügung des Internationalen Gerichtshofs räumten die russischen Friedenstruppen die Blockade des Latschin-Korridors durch die angeblichen aserbaidschanischen „Aktivisten“ nicht. Währenddessen verwandelten sich die Umweltforderungen in politische Forderungen nach einer „Wiedereingliederung“ von Berg-Karabach, was auf seine Unterwerfung hinauslief. In Armenien glauben mittlerweile viele, dass diese Blockade von Aserbaidschan in einer Absprache mit Russland erfolgte. Dahinter wurde die Absicht vermutet, Armenien den exterritorialen Sangesur-Korridor zu entziehen, um Aserbaidschan mit seiner Exklave Nachitschewan zu verbinden – unter Aufsicht des russischen Föderalen Sicherheitsdienst (FSB). Dies wiederum würde es Russland ermöglichen, Sanktionen zu umgehen.
Im April wurden die angeblichen Demonstranten durch aserbaidschanische Grenzschutzbeamte ersetzt. Diese richteten Kontrollpunkte ein und lösten damit die russischen Friedenstruppen in Berg-Karabach ab, die zwar vor Ort blieben, jedoch keine Kontrolle mehr über die Ein- bzw. Ausreise ausübten.
Bis Mitte Juni wurde die Blockade von Berg-Karabach teilweise aufgehoben, da russische Friedenstruppen und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz humanitäre Konvois mit Lebensmitteln, Medikamenten und anderen Gütern zur Grundversorgung der Bevölkerung nach Berg-Karabach bringen durften. Am 15. Juni kam es jedoch zu einem Zwischenfall auf der Hakari-Brücke, die vom armenischen Territorium zum Eingang in das Latschin-Korridor führt: Aserbaidschanische Grenzsoldaten versuchten, auf armenisches Gebiet vorzudringen und dort ihre Flagge zu hissen. Russische Friedenstruppen begleiteten die aserbaidschanischen Soldaten während des Vorfalls. Der Versuch scheiterte an den Gegenmaßnahmen der armenischen Seite. Doch diese Eskalation und ein weiterer Zwischenfall, bei dem die für das Rote Kreuz tätigen Lkw-Fahrer involviert waren, führte dazu, dass Aserbaidschan die humanitären Konvois nach Berg-Karabach verbot. Während die Bewohner von Berg-Karabach Hunger litten, konnten armenische Kinder beobachten, wie die russischen Friedenstruppen mit Lebensmittel und anderen Gütern per Hubschrauber versorgt wurden Einem Bericht zufolge verteilten russische Militärs lediglich einige Lebensmittel an Kindergärten. Es gibt jedoch Augenzeugenberichte über den Verkauf von Lebensmitteln und Treibstoff durch die Angehörigen der russischen Friedenstruppen zu stark überhöhten Preisen.
Im Anschluss an das trilaterale Treffen zwischen den Außenministern Russlands, Armeniens und Aserbaidschans am 19. Juli 2023 in Moskau gab Russlands Außenminister Sergej Lawrow eine Erklärung ab, die auf eine Unterstützung von Forderungen der aserbaidschanischen Seite hinauslief: Unter anderem sollten für Armenier in Berg-Karabach – als ethnische Minderheit ohne besonderen Status nach aserbaidschanischem Gesetz – eingeschränkte Rechte gelten; auch sollte es keine internationalen Garantien für deren Sicherheit geben. Das armenische Außenministerium betonte in seinem klärenden Kommentar dazu die Notwendigkeit, diese Fragen im Dialog mit Baku und Stepanakert im Rahmen eines internationalen Gremiums zu behandeln.
Im Sommer 2023 versuchten die USA und die EU, direkte Gespräche zwischen den Vertretern von Aserbaidschan und der Republik Arzach an einem neutralen Ort zu organisieren, um die Rechte und die Sicherheit der Armenier in Berg-Karabach zu verhandeln und die festgefahrene Situation zu entspannen. Berichten zufolge wies Moskau die De-facto-Regierung von Arzach an, nicht zu diesem Treffen nach Sofia zu reisen, woraufhin Aserbaidschan – wahrscheinlich in Absprache mit Moskau – sich weigerte, an den Gesprächen in Bratislava teilzunehmen und in der Haltung verharrte, dass solche Treffen nur auf aserbaidschanischem Hoheitsgebiet stattzufinden hätten. Die russische Friedenstruppe behielt ihr Monopol auf die Vermittlung von Treffen zwischen Vertretern von Aserbaidschan und Berg-Karabach bei und beschränkte diese strikt auf technische und humanitäre Fragen. Am 16. August 2023 wurde Lawrows neuer Plan bekanntgegeben: Dieser sah eine Integration von Armeniern in Aserbaidschan ohne internationale Mechanismen für deren Rechte und Sicherheit vor.
Schließlich konnten die russischen Friedenstruppen nicht verhindern, dass die aserbaidschanischen Streitkräfte am 19. und 20. September 2023 eine Militäroperation gegen die Armenier in Berg-Karabach begannen. Diese forderte nicht nur militärische, sondern auch zivile Opfer und hatte das Vordringen der aserbaidschanischen Truppen bis in die Hauptstadt Stepanakert zufolge. Bei dem Versuch armenischen Zivilisten zur Flucht zu verhelfen, wurden auch mehrere Angehörigen des russischen Friedenskontingentes zu Opfern des aserbaidschanischen Beschusses. Aserbaidschans Präsident Alijew entschuldigte sich dafür bei Russland. Berichten zufolge hatten sich die russischen Friedenstruppen jedoch vor dem Beginn der Militäroperation aus strategischen Positionen zurückgezogen. Im Anschluss daran vermittelten russische Friedenstruppen ein weiteres Treffen, bei dem sich die De-facto-Regierung Berg-Karabachs bereit erklärte, die Waffen niederzulegen, die Regierungsinstitutionen aufzulösen und die seit mehr als drei Jahrzehnten bestehende De-facto-Republik Arzach abzuschaffen. Daraufhin kam es in der letzten Septemberwoche 2023 zu einem Massenexodus aus Berg-Karabach: Die gesamte noch in der Region verbliebene armenische Bevölkerung von mehr als einhunderttausend Menschen floh nach Armenien.
Die rasche Abwanderung aller Armenier aus Berg-Karabach nach Armenien scheint Moskau überrascht zu haben: Russland ist offensichtlich davon ausgegangen, dass zumindest einige tausend Armenier in der Region bleiben würden, womit auch die weitere militärische Präsenz der russischen Friedenstruppe zu rechtfertigen wäre. Berichten zufolge versucht Russland deswegen, einige in Russland und Armenien lebende Armenier, die ursprünglich aus Berg-Karabach stammen, zur Rückkehr in das Gebiet zu bewegen. Die russischen Friedenstruppen haben inzwischen ihre Präsenz in Berg-Karabach reduziert, berichten jedoch ironischerweise regelmäßig, dass es in ihrem Zuständigkeitsbereich keine Zwischenfälle gebe. Es ist auch unklar, wie Aserbaidschan und Russland die bei Selbstverteidigungskräften Berg-Karabachs beschlagnahmten Waffen und militärisches Gerät verteilten haben. Berichten zufolge verhandeln sie auch mit der aserbaidschanischen Seite über deren weitere Präsenz in der Region. Ungeklärt bleibt auch das Schicksal des russisch-türkischen Beobachtungszentrums in Aghdam: Diese Institution wurde nach dem Waffenstillstandsabkommen von 2020 eingerichtet, um dessen Umsetzung zu überwachen; ihre Tätigkeit war jedoch intransparent.
Während der Sitzungen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, die sich mit der Lage in Berg-Karabach im Zusammenhang mit der Blockade im Dezember 2022 und August 2023 sowie mit der Militäroperation im September 2023 befassten, schloss sich Russland den aserbaidschanischen Darstellungen an und gab das Scheitern seiner Friedensmission nicht zu. Im Jahr 2022 verhinderte Russland die Verabschiedung einer Erklärung des UN-Sicherheitsrats zur Blockade Berg-Karabachs durch Aserbaidschan.
Das Verhalten der russischen Behörden und Friedenstruppen rief in Armenien zunehmende Kritik hervor: Das Mandat wurde ab 2022 nicht erfüllt, was zu einem allmählichen Vertrauensverlust der Regierung und der Bevölkerung in Berg-Karabach führte. Die Regierung, die politischen Gruppierungen und die Zivilgesellschaft Armeniens und vor allem die Flüchtlinge aus Berg-Karabach kritisierten die Untätigkeit und das Versagen der russischen Friedenstruppen bei der Verhinderung von Verstößen gegen den Waffenstillstand, weitere Verluste an Territorien und Menschenleben auf armenischer Seite sowie die von Aserbaidschan verhängte Blockade des Latschin-Korridors. Die russische Regierung reagierte defensiv, leugnete das Versagen der russischen Friedenstruppen und machte die armenische Regierung zum Sündenbock, weil sie Berg-Karabach im Mai 2023 – bereits im fortgeschrittenen Stadium der Krise – als Teil Aserbaidschans anerkannt hatte. Der russische Präsident Putin jedoch hatte Berg-Karabach als Teil Aserbaidschans bereits zwei Wochen nach dem Waffenstillstand von 2020 öffentlich anerkannt.
Der russische Faktor
In seinem aggressiven Krieg der Narrative gegen die Armenier nutzte Aserbaidschan den russischen Faktor, um den Berg-Karabach-Konflikt zu stigmatisieren und gleichzeitig die Assoziationen mit dem Kosovo-Konflikt in puncto ethnische Säuberung zu vermeiden. Denn eine „Kosovoisierung“ dieses Konfliktes hätte die Abspaltung Berg-Karabachs erleichtern bzw. zur Entsendung eines internationalen Schutzkontingents führen können. Stattdessen verstärkte Aserbaidschan die Assoziationen des Berg-Karabach-Konflikts mit den Konflikten in Südossetien, Abchasien, Transnistrien, auf der Krim und im Donbass, die allesamt als von Russland verursacht wahrgenommen werden. Damit versuchte Aserbaidschan Länder wie Georgien, Moldau, die Ukraine und den Westen für sich zu gewinnen.
Seit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Armeniens im Jahr 1991 führten seine außenpolitischen Entscheidungen zum Scheitern der ursprünglich beabsichtigten Politik des Machtgleichgewichts: Armenien opferte seine Beziehungen zum Westen, um russischen Interessen nicht zu schaden. So wurde die in letzter Minute von Sersch Sargsjan, dem dritten armenischen Präsidenten, getroffene Entscheidung, der von Russland angeführten Zollunion (der heutigen Eurasischen Wirtschaftsunion) beizutreten, anstatt das bereits ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, mit dem Vorrang der Sicherheit vor der Demokratie begründet. Dies war weitgehend durch den Konflikt in Berg-Karabach bedingt, bei dem sich Armenien auf Russland als Schutzmacht verließ. Armenien hätte jedoch eine bessere Lösung des Konflikts im Berg-Karabach erreichen können: Dafür hätte man sich auf der armenischen Seite um eine angemessene Darstellung des Konflikts bemühen und sich mit dem Westen zusammentun müssen, um die Elemente des Kosovo-Präzedenzfalls auf Berg-Karabach anzuwenden – wie es von der Minsker Gruppe der OSZE mehrfach angeboten wurde. Höchstwahrscheinlich hatte Armenien dies nicht versucht, weil es die russische Reaktion fürchtete, gerade angesichts der russischen Unterstützung für Serbien und der Nichtanerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo. Es gab auch einen Bericht über ein Angebot der USA an Robert Kotscharjan (damals Ministerpräsident von Berg-Karabach und später Präsident Armeniens): Es sah vor, Berg-Karabach zu einem Transitgebiet für eine Öl- oder Gaspipeline von Aserbaidschan nach Europa zu machen, das von Armenien abgelehnt wurde – aus Rücksicht auf die für Russland ungünstige Veränderung der regionalen Dynamik. [3] So geriet die armenische Seite in eine geopolitische Falle, die einer Lösung des Konflikts um Berg-Karabach nicht zuträglich war.
Abschließend lässt sich sagen, dass Russland den Berg-Karabach-Konflikt als Druckmittel nutzte, um seine eigenen geopolitischen Interessen durchzusetzen und seinen Einfluss auf Armenien und Aserbaidschan sowie seine Präsenz im Südkaukasus aufrechtzuerhalten. Russland verbündete sich zunehmend mit Aserbaidschan, das zum einen als aufstrebender stärkerer Partner angesehen wurde und zum anderen aufgrund der autokratischen Regierungssysteme beider Länder mehr Gemeinsamkeiten mit Russland aufwies. Gleichzeitig strafte Russland damit Armeniens demokratische Ambitionen ab. Aufgrund dieser Machtverhältnisse formulierte Russland seine strategische Allianz mit Aserbaidschan neu und schätzte diese offenbar höher ein als sein traditionelles Bündnis mit Armenien. Russland forciert damit seine Agenda, dazu gehören auch Gaslieferungen auf Umwegen über Aserbaidschan nach Europa. Der Krieg in der Ukraine verstärkte schließlich die gemeinsamen geopolitischen Interessen zwischen Russland und Aserbaidschan.
Russland nutzte sein Vetorecht im UN-Sicherheitsrat, um keine Erklärung bzw. Resolution zur Lage in Berg-Karabach seit dem Krieg von 2020 zuzulassen und jede Erwägung einer Stationierung internationaler Friedenstruppen in der Region im Keim zu ersticken. Daran änderte sich auch nichts, als die Unfähigkeit oder vielmehr der Unwille der russischen Friedenstruppen, ihre eigentliche Aufgabe zu erfüllen, offensichtlich wurde. Das Fehlen eines internationalen Mandats, transparenter Einsatzregeln internationaler Überwachungs- und Berichterstattungsmechanismen, der rein militärische und einseitige Charakter waren für die russische Friedensmission kennzeichnend. [4] Die Stigmatisierung Russlands angesichts seines Krieges in der Ukraine war eine zusätzliche Herausforderung für die Legitimität und Glaubwürdigkeit seiner friedenserhaltenden Rolle. Russland verpasste die Gelegenheit, sein Gesicht zu wahren, und entschied sich einmal mehr für die weitere Durchsetzung seiner geopolitischen Interessen statt für den Schutz der Rechte und der Sicherheit der Armenier in Berg-Karabach. Russland büßte damit das Vertrauen seines Verbündeten ein. Und dies wird offensichtlich zu einem Wandel in der Außen- und Sicherheitspolitik Armeniens führen.
Aus dem Englischen übersetzt von Elena Cueto Chavarría
[1] Sossi Tatikyan. How do energy security and Euro-Atlantic integration correlate in the Southern Caucasus. NATO Defence College Occasional Paper, Research Division, Rome, May 2008.
[2] Sossi Tatikyan. The EU’s Role in Preventing a New Conflict and Ensuring Sustainable Peace Between Armenia and Azerbaijan. European Policy Review, Volume 6, Issue 1. July 2023.
[3] Interview nach Chatham House Rules.
[4] The legal and military aspects of the management of secessionist conflicts after the war and before the peace: with and without international peacekeeping. Proceedings of the 45th Annual Roundtable on International Humanitarian Law “After the Conflict Before the Peace: Legal, Military and Humanitarian Issues during the Transition.” International Institute of Humanitarian Law, San Remo. ISBN 978-88-351-4871-5. (pp. 194–202)