17 August 2023Armenia

Stadt ohne Gedächtnis

Jerewan verliert seine Erinnerungen – und die Zukunftsperspektiven sind unklar

by Arsen Abrahamyan
© Har Toum


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Staub der Jahrhunderte erhebt sich
in Schwaden und vernebelt die Atmosphäre.
Durch ihn hindurch scheinen dir
die Menschen weit, weit entfernt ...

Mkrtich Armen, „Jerewan“

Im Firdus-Viertel im Jerewaner Stadtzentrum, unweit vom Platz der Republik, ist auf dem Asphalt ein Schriftzug zu sehen: „DAS ALTE IST SCHÖN“. Er ist das einzige verbliebene Zeugnis eines drei Jahre währenden Kampfes von Aktivistinnen und Aktivisten [gegen massive städtebauliche Veränderungen, der auch viele historische Bauten zum Opfer fielen – Anm. d. Red.]. Am 3. Juni 2023 wurde an diesem Ort ein Ziegelbau abgerissen, geblieben sind nur Trümmer und Staub.Eine Stadt ist immer ein Ort des Wandels. Die Fähigkeit zur Veränderung macht sie erst lebensfähig. Wie alle modernen Städte ändert sich auch Jerewan, doch die Veränderungen lassen oft ein Gefühl schmerzlicher Resignation zurück. Die Stadt und ihr Verhältnis zur eigenen Vergangenheit und Identität sind im vergangenen Jahrhundert in eine Art Teufelskreis geraten, in dem Verschwinden, Rekonstruktion und Neugestaltung aufeinander folgen.In jüngster Zeit macht Jerewan verschiedene, teils widersprüchliche oder zerstörerische, Transformationen durch. Neue Schichten kommen zur urbanen Landschaft hinzu, manchmal mit exponentieller Geschwindigkeit. Und die Art und Weise, wie sie sich aufeinanderlegen, auseinander hervorgehen und sich aufeinander beziehen, führt zu einem massiven Konflikt.

Wenn es allein um die Architektursprache und das visuelle Stadtbild ginge, wäre das vielleicht noch kein großes Problem. Aber jede Schicht einer Stadtlandschaft hat auch einen ideellen und kulturellen Gehalt, und nicht zuletzt ist sie ein Querschnitt durch das Gedächtnis, das die Identität der Menschen und der Gesellschaft prägt.

Jerewan ist eine vielschichtige Stadt – sowohl in räumlicher Hinsicht als auch in Bezug auf die Bevölkerung. Hier werden kontinuierlich Erinnerungen ausgelöscht und damit Identitäten getilgt. Wir selbst sind ebenso vielschichtig wie unsere Stadt und nicht weniger von Widersprüchen zerrissen. Es ist, als stammten wir aus verschiedenen Jerewans. Wir leben zur selben Zeit in unterschiedlichen Städten; unser Gedächtnis, unsere Narrative und unsere Sicht auf die Stadt sind völlig disparat und manchmal unvereinbar.

In den letzten Jahren finden sich immer wieder Aktivistinnen und Aktivisten zusammen, um Gedächtnis und Identität zu verteidigen. Gerade unter den schwierigen Bedingungen nach dem Krieg [um Bergkarabach 2020 – Anm. d. Ü.] ist es besonders wichtig, den Kampf um das Recht auf die Stadt nicht einzustellen. Wir müssen uns vielmehr der Vergangenheit neu zuwenden die Ereignisse der letzten Jahre nachvollziehen, die uns Verhältnisse beschert haben, in denen nur noch ein Schriftzug auf dem Asphalt vor dem Hintergrund eines abgerissenen Ziegelbaus bleibt.

In den Diskussionen um die traumatischen Transformationen in Jerewan und die groben Eingriffe in das urbane Gedächtnis wird hauptsächlich die Entwicklung seit dem Ende der Sowjetunion thematisiert. Das Jerewan der Sowjetzeit erfüllt darin meist die nostalgische Funktion einer idealen Vergangenheit, die wir verloren haben oder die uns geraubt wurde. Um den Wandel der Stadt und ihrer Identität verfolgen zu können, ist es jedoch notwendig, den weiteren historische Kontext einzubeziehen – angefangen beim Umbau des vorsowjetischen Jerewan und dem 1924 von Alexander Tamanjan erarbeiteten Generalplan. Hier liegen die Wurzeln für einige aktuelle städtebauliche Probleme und für Schwierigkeiten bei der Wahrung des architektonischen Erbes – etwa die Umgestaltung historisch gewachsener Bezirke, die Zerstörung einer ganzen Reihe von vorsowjetischen Bauten, die Umleitung und teilweise Überbauung des Flusses Getar und die Abdrängung der Hrasdan-Schlucht aus dem Zentrum des städtischen Raums. Tamanjans Renommé wird oft in manipulativer Absicht beschworen, um aktuelle städtebauliche Änderungen zu rechtfertigen. Vor der Erörterung dieser gegenwärtigen Vorgänge sollte deshalb das Narrativ von der „Stadt Tamanjans“ daraufhin überprüft werden, inwiefern es im Hinblick auf die jetzigen politischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten überhaupt aktuell ist.

Das sowjetische Jerewan wurde vor allem auf Grundlage eines nationalistischen Narrativs errichtet. Weitere Transformationen sollten dazu dienen, die Vorgaben der Sowjetideologie zu legitimieren und zu verankern. In der postsowjetischen Zeit war Jerewan dann mit einer neuen Realität konfrontiert. Der ins Flair des Luxuskonsums gehüllte Körper der Stadt wurde nun in den Dienst wirtschaftlicher Interessen und geschäftlicher Prioritäten gestellt. In dieser Zeit fanden zahlreiche umstrittene und problematische Entwicklungen statt, in denen zum Ausdruck kam, wie vieldeutig das städtische Narrativ gelesen wird und wie das heutige Jerewan mit seiner Umgebung interagiert.

Die erste und wohl traumatischste Veränderung Jerewans nach der Unabhängigkeit war der Bau der Nördlichen Allee (Hyusisayin poghota) in den Jahren 2001 bis 2007, der von Aktivistinnen und Aktivisten bekämpft wurde. Die Allee war bereits in Tamanjans Generalplan vorgesehen. Sie sollte den Platz der Republik mit der Oper verbinden und damit die Nord-Süd-Achse der Stadt komplettieren. Zu Tamanjans Lebzeiten wurde dieses Vorhaben jedoch nicht realisiert. In den 1960er Jahren griff die Stadtverwaltung es wieder auf, und in den 1980ern wurden sogar einige Wettbewerbe organisiert. Es kam jedoch keiner der vorgeschlagenen Entwürfe zur Ausführung.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion brachte der Chefarchitekt von Jerewan, Narek Sagrsjan, Tamanjans Plan in den 2000er Jahren erneut auf die Tagesordnung. Unter Berufung auf den renommierten Stadtplaner stellte er eine eigene Version des Alleebauprojekts vor, die auch beschlossen wurde. Zwei Jahre darauf begann die Realisierung und damit die Auslöschung einer wichtigen Schicht des historischen Stadtkerns. Dabei wurden die Eigentumsrechte der dort ansässigen Menschen massiv verletzt. Die Regierung verabschiedete damals ein „Gesetz über die Enteignung von Immobilienbesitz zur Wahrung vorrangiger gesellschaftlicher Interessen“, dessen Formulierung Spielraum für die missbräuchliche Anwendung ließ. Der Bau der Allee zahlte sich auch in politischer Hinsicht aus. Die Beteiligten gaben sich damit den Anstrich, zur Verbesserung des Investitionsklimas und Beschleunigung des Wirtschaftswachstums beizutragen.

Gegen den Bau der Nördlichen Allee fand sich eine Bürgerinitiative zusammen, die mit Petitionen, Ausstellungen und anderen Aktionen versuchte, die Öffentlichkeit auf das Problem aufmerksam zu machen. Sie kümmerte sich auch um die rechtliche Unterstützung der Anwohnerinnen und Anwohner – mit einem gewissen Erfolg: Viele wurden für die Überlassung ihres Besitzes entschädigt. Es gab jedoch auch einige, die ihr Zuhause unter keinen Umständen verlassen wollten. Für sie war diese Umgebung untrennbar mit der Geschichte und dem Gedächtnis ihrer Familie verbunden. Leider wurden ihre Häuser und Wohnungen zwangsgeräumt und zerstört. Der Bau der Allee fiel in die repressivste Periode der dritten armenischen Republik und wurde vom damaligen Staatspräsidenten Robert Kotscharjan persönlich unterstützt.

Die Nördliche Allee war das größte und umstrittenste Projekt seit Beginn der Unabhängigkeit. Eine wichtige Schicht des historischen Stadtkerns von Jerewan fiel dabei dem Gewinnstreben zum Opfer und die Rechte zahlreicher Anwohnerinnen und Anwohner wurden verletzt. Später entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in neun Fällen gegen die Republik Armenien und verurteilte sie zu Entschädigungszahlungen. Trotzdem wurde keine der in offizieller Funktion oder anderweitig am Projekt beteiligten Personen zur Verantwortung gezogen oder bestraft. Die Allee ist Teil des Stadtbilds und erinnert an eine traumatische Episode in der Geschichte von Jerewan, die eine ganze Gesellschaftsschicht betrifft. Sie zeugt von Menschenrechtsverletzungen und der Verhöhnung menschlicher Identitäten und Erinnerungen. Zugleich markierte der Kampf gegen den Bau der Nördlichen Allee den Beginn eines neuen städtischen Aktivismus im unabhängigen Armenien, der sich gegen Korruption, Gentrifizierung und Autoritarismus richtet.

Auf den Bau der Nördlichen Allee mit seinen Begleiterscheinungen folgte das Projekt „Alt-Jerewan – ein urbanes Rekonstruktionsvorhaben, das bereits 2005 vorgestellt worden war, jedoch erst ab 2018 realisiert wurde. Die Baumaßnahmen finden auf einem Areal statt, das von vier zentralen Straßen eingerahmt wird. Vierzehn denkmalgeschützte Gebäude sollen an ihrem jetzigen Standort erhalten werden. Zudem ist vorgesehen, sieben weitere historische Gebäude, die in den letzten Jahren abgerissen wurden, auf das Gelände umzusetzen und dort wieder zu errichten. Die Bauten sollen außerdem aufgestockt werden. Nicht einmal der Umstand, dass im Denkmalschutzgesetz der Republik Armenien ausdrücklich auf den Wert „des historisch mit den Denkmälern verbundenen Territoriums“ verwiesen wird, konnte die Realisierung des Projekts „Alt-Jerewan“ abwenden. So wird die Vorstellung normalisiert, dass sich geschichtliches und kulturelles Erbe, das „so viele Hindernisse und Unannehmlichkeiten erzeugt“, einfach aus seinem kulturellen Umfeld herausreißen und umpflanzen lässt – und dass historische Gebäude bis auf die Fassaden zerstört werden können, die dann als Totenmasken die neuen Freizeitgebiete und Geschäftskomplexe zieren.

Von offizieller Seite wird das Projekt „Alt-Jerewan“ fast immer gerechtfertigt und seine Umsetzung positiv dargestellt. Regierungskreise und ihnen nahestehende Architekturfunktionäre stellen das Abtragen von Gebäuden und die Umsetzung von Architekturdenkmälern, die mit ihrem Wissen und auf ihre Initiative hin durchgeführt werden, als unumgängliche Notwendigkeit hin. Das Projekt „Alt-Jerewan“ wird dabei als einziger Ausweg aus der gegebenen Situation präsentiert – als „Chance, kurz vor dem Verfall stehende Gebäude zu erhalten und die einzigartigen Züge zu bewahren, die die unverwechselbare Besonderheit Jerewans ausmachen“ [Statement von Warag Siserjan, dem Leiter des Amts des stellvertretenden Premierministers Tigran Awinjan, im September 2020]. Hier stellt sich die Frage: Vor wem retten sie Alt-Jerewan, und welche tragischen Umstände haben die Vernichtung dieses echten alten Jerewan eigentlich herbeigeführt?

Das umstrittene Enteignungsgesetz machte den Weg frei, um zahlreiche historische Gebäude Jerewans zu zerstören oder bestenfalls auf das Areal „Alt-Jerewan“ umzusetzen. Dazu gehörte auch das Gebäude des Afrikjan-Klubs, ein historisches und kulturelles Baudenkmal von landesweiter Bedeutung. Es war im 19. Jahrhundert von den Brüdern Afrikjan als städtischer Klub errichtet worden. In der sowjetischen Zeit wurde es erst dem Nationalen Sicherheitsdienst Armeniens zur Verfügung gestellt und später in ein Wohnhaus umgewandelt. Ab 2009 begann die Diskussion darüber, das Gebäude abzutragen und in das Projekt „Alt-Jerewan“ zu integrieren. Nach Auffassung der Stadtverwaltung stand es „dem Plan im Weg, die Terjan-Straße und die Sakjan-Straße in Jerewan zu verbinden, die auf einer Linie liegen“. Einmal mehr wurde das oben genannte Gesetz über das öffentliche Interesse eingesetzt, um den geschäftlichen Interessen bestimmter Einzelpersonen zu dienen.

2014 verschärfte sich die Diskussion um den Abriss des Afrikjan-Hauses. Viele Bürgerinnen und Bürger kämpften gemeinsam für den Erhalt des Gebäudes. Sie versuchten, die Öffentlichkeit auf das Problem aufmerksam zu machen und vom kulturellen und architektonischen Wert des Baus zu überzeugen. Im Afrikjan-Haus fanden Konzerte, Aufführungen und öffentliche Diskussionen statt. Als die Abrissarbeiten begannen, gingen die Protestierenden zu rigoroseren Schritten über. So entfernten sie etwa die Nummerierung der Steine, die angebracht worden war, um den Bau abzutragen. Leider wurde das Afrikjan-Haus 2014 abgerissen – mit dem Versprechen es auf dem „Alt-Jerewan“-Gelände wieder aufzubauen. Der Leiter der Abrissarbeiten, Architekt des geplanten Neubaus und Initiator des Projekts „Alt-Jerewan“ ist ein und dieselbe Person, Lewon Wardanjan. Allein daran wird deutlich, wie die städtebaulichen Maßnahmen von einer kleinen Gruppe von Menschen monopolisiert und kontrolliert werden.

Vor einigen Jahren begann ein weiteres Großprojekt, das die Vernichtung historischer Baudenkmäler von Jerewan vorsieht. Diesmal geht es um die Gentrifizierung des 33. Bezirks, der als Firdus-Viertel bekannt ist. Hier waren bereits 2008 Enteignungsmaßnahmen eingeleitet worden, doch danach verstummten die Diskussionen über das Schicksal des Stadtteils und begannen erst 2020 von Neuem. In diesem Zeitraum hatte sich eine politische Perspektive entwickelt, die es möglich machte, wichtige Bauten des historischen Stadtraums zu zerstören, die das über Jahrhunderte gewachsene städtische Milieu Jerewans bewahren. Der Gedanke, die historischen Schichten der Stadt zu erhalten, sie in die neue städtebauliche Planung zu übernehmen und zu integrieren, wurde einem urbanistischen Konzept geopfert, das wirtschaftlichen Gesichtspunkten den Vorrang einräumte. Dabei hätte die Samtene Revolution von 2018 den Beginn einer neuen Entwicklungsphase des postsowjetischen Armeniens einleiten können, in der nicht nur die Vergangenheit neu bewertet wird, sondern sich auch die Vorstellung von der Zukunft wandelt.

Zwar gingen massive Korruption und brutale Gewalt nach der Samtenen Revolution zurück, doch bei der Stadtplanung gab es keine Verbesserungen, was die Wahrung des historischen und kulturellen Erbes anging. Als 2020 die Diskussion um das Firdus-Viertel wieder aufkam, war die Stadtverwaltung nicht in der Lage, eine ausgewogene und geordnete öffentliche Diskussion unter Einbeziehung aller Seiten zu organisieren und einen Wettbewerb für die Neugestaltung in Gang zu setzen. Sie beschloss schließlich ein Bauprojekt, das Narek Sargsjan 2015 eingereicht hatte und das ganz und gar auf den von der revolutionären Öffentlichkeit verworfenen politischen und wirtschaftlichen Vorstellungen basierte. Entsprechend stieß das Vorhaben in der Öffentlichkeit und bei Fachleuten für Stadtentwicklung auf entschiedene Ablehnung. Der Abriss eines um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert errichteten Gebäudes im Juni 2020 löste in der Zivilgesellschaft heftige Kontroversen und aktiven Widerstand aus.

Anders als bei früheren Bürgerinitiativen zum Schutz der historischen Stadtlandschaft wurde beim Kampf für das Firdus-Viertel nicht nur mit dem Schutz von Eigentumsrechten und dem Erhalt „schöner“ historischer Bauten argumentiert. Das verdankt sich vor allem dem Forschungsprojekt Firdus: The Memory of a Place. Indem es die Rolle historisch gewachsener Bezirke im Kontext des kulturellen und sozialen Gedächtnisses beleuchtet, lieferte es den Aktivistinnen und Aktivisten zusätzliche Argumente und stärkte ihre Position. Die Fachleute und die Bürgerinitiative setzten dem von der Stadtverwaltung vertretenen Projekt einen alternativen, offenen Wettbewerb für die Neugestaltung des Viertels entgegen. Er hatte zwar keinerlei Auswirkungen auf den Umbau, doch allein schon seine Durchführung zeigte exemplarisch, wie sich Prozesse, die für die Stadt von Bedeutung sind, mit öffentlichen Ausschreibungen und Diskussionen gestalten lassen.

Mittlerweile hat der Abriss des Firdus-Viertels begonnen. Auch die wenigen Familien, die ihre Häuser bisher nicht verlassen möchten, werden irgendwann umziehen müssen. In einigen Jahren wird diese Schicht von Jerewans historischer Stadtlandschaft unwiederbringlich verloren sein – und damit auch die einzigartige Mehrdimensionalität ihres Raums, ihre Bedeutung für die Atmosphäre der Stadt und das mit ihr verbundene soziale und kulturelle Gedächtnis.

Offensichtlich ist die Transformation der Stadt weiterhin von Ideen und Tendenzen bestimmt, die sich nicht aus den dringlichen Problemen und Bedürfnissen der Einwohnerschaft ergeben. Das Vorgehen wird von staatlichen Narrativen diktiert, die die Vorstellungen der Regierung und/oder einfach die Profiterzielung legitimieren sollen. Die Interessen der Öffentlichkeit spielen dabei keine Rolle. Auffällig ist auch das Fehlen systematischer architektonischer oder städtebaulicher Erwägungen: Keine Idee in Bezug auf die Stadt wird vollständig umgesetzt. Immer neue Projekte und Pläne lösen einander ab, ohne Rücksicht auf die Vergangenheit, die Menschen und das soziale und kulturelle Gedächtnis.

Zurzeit nehmen die städtebaulichen Aktivitäten in Jerewan wieder zu, und das bringt für die Bewahrung des kulturellen Erbes neue Gefahren mit sich. Neben kleineren Projekten hat die Stadtverwaltung die Umgestaltung des Kond-Viertels auf die Agenda gesetzt und eine Ausschreibung organisiert. Angesichts der Entwicklung in den letzten Jahrzehnten und der demonstrativ gleichgültigen Haltung der neuen Stadtverwaltung gibt es keine Gewähr dafür, dass nicht eine weitere historische Schicht Jerewans den Bulldozern zum Opfer fällt. Die Öffentlichkeit ist bei der Verteidigung ihrer Rechte an ihrer Heimatstadt einmal mehr auf sich allein gestellt.

Zu den ungelösten Problemen und unausgegorenen Ideen kommt verschärfend die Militarisierung des Alltags infolge des Zweiten Arzach-Kriegs hinzu, die den gesamten öffentlichen Diskurs durchdringt. Das Trauma des Krieges und die Herausforderungen des Nachkriegsalltags haben die Gesellschaft unempfänglich für andere Aspekte des Lebens gemacht. Dieses Diskursrauschen hat einige Phänomene und Prozesse aus der öffentlichen Diskussion verdrängt, die Aufmerksamkeit verdienen. Deshalb sollten wir uns darauf besinnen, dass diese Fragen weder durch Kriegstraumata noch durch die Bedingungen der Nachkriegsrealität obsolet werden: Es ist wichtig, darüber zu reden und bei wichtigen innenpolitischen Entwicklungen notfalls Widerstand zu leisten.

Die entscheidenden Fragen sind weiterhin offen: Wie sieht Jerewans Zukunft aus? In welche Richtung entwickelt sich die Stadt? Wer wird sie auf diesem Weg schützen? Haben wir eine umfassende Zielvorstellung? Und drohen ohne sie nicht weitere traumatische Ereignisse und destruktive Transformationen? Wird die Zukunft der Stadt und ihrer Bürgerinnen und Bürger dadurch nicht noch verwundbarer?

Die historische Bausubstanz in der Gegend der Nördlichen Allee, dem Firdus-Viertel und der Buzand- und Aram-Straße im Zentrum der Stadt ist bereits unwiederbringlich verloren. Auch Kond ist bedroht. Die Geschichte dieser Stadtviertel erzählt von der Auslöschung des Gedächtnisses der Stadt und derer, die sie bewohnen, von der Missachtung ihrer Verbundenheit mit ihrem Heimatort. Jerewan verschwindet. Es nicht zu bewahren hieße, es dem Vergessen zu überantworten und zuzulassen, dass seine Identität sich im Nebel blinder Amnesie auflöst.

Aus dem Englischen übersetzt von Anselm Bühling

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