11 December 2023Georgia

Hin zu einer sonnigen, schönen, lebensbejahenden Architektur

Die Geschichte des georgischen Postkonstruktivismus

by Tamara Amashukeli
View of Tbilisi© National Archives of Georgia


Die Frage nach dem Verhältnis zur sowjetischen Vergangenheit ist im heutigen Georgien heikel und hochaktuell zugleich. Die ambivalente Haltung dazu zeigt sich in verschiedenen Bereichen, auch in der Architektur und im Städtebau. Der Wunsch, sich des lastenden sowjetischen Erbes zu entledigen, führt dabei bisweilen zu einer Art Bilderstürmerei, deren Opfer Architekturdenkmäler aus sowjetischer Zeit sind. In diesem Artikel stellt Tamara Amaschukeli, Dozentin an der staatlichen Ilia-Universität in Tbilissi, den georgischen Postkonstruktivismus der 1930er Jahre vor. Sie zeigt, dass die Architektur des sowjetischen Georgien trotz zunehmender Verengung des offiziell zulässigen Formenkanons noch eine gewisse architektonische Ausdrucksfreiheit in Anspruch nehmen konnte. Möglich war dies durch Rückgriffe auf das großzügig ausgelegte (westliche wie östliche) klassische Erbe und die Anknüpfung an die georgische Architekturtradition, in der das harmonische Zusammenspiel von Bauwerk und Landschaft wichtig ist.

Die Bauten aus dieser Zeit, die in vieler Hinsicht prägend sind für das Erscheinungsbild Tbilissis und anderer georgischer Städte, fallen heute jedoch einer unbedachten Städtebaupolitik zum Opfer.

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Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt in der Architekturgeschichte eine besondere Rolle. Einerseits zeichnet sie sich durch architektonische Stilvielfalt und die Suche nach neuen Wegen aus. Neue Materialien und der technologische Fortschritt erweiterten den Spielraum der Architektur und nahmen erheblichen Einfluss auf ihre Entwicklung. Andererseits wurde die Architektur – ebenso wie auch die Kunst – in den Ländern mit totalitären Regimen in den Dienst der Macht gestellt, die schöpferische Freiheit der Architekten und Kunstschaffenden entsprechend stark eingeschränkt

Das Gesicht der neuen Epoche ist fraglos die Moderne. In den 1930er Jahren gewann jedoch in den totalitären Ländern (und nicht nur dort) der alte, bekannte und für die Massen begreifliche Klassizismus an Popularität. Er ermöglichte es, respekteinflößende Monumentalbauten zu errichten, die als allgemeinverständliche Metaphern dienen konnten. Die klassische Architektur wurde zu einem Quell der Stabilität, der für die in umfassender Veränderung begriffene Welt existenzielle Bedeutung erlangte. Dieser Stil wird manchmal ausschließlich mit der Architektur totalitärer Regime in Verbindung gebracht, die sich vernehmlich und selbstsicher präsentieren, ihre Ideologie verbreiten, ihre Legitimität bekräftigen und die Massen in den Bann ihrer Macht ziehen wollen. Treffender wäre es allerdings, ihn als Signatur der Epoche zu bezeichnen. Denn er findet sich nicht nur in Rom, Moskau und Berlin, sondern auch in Washington, London und Paris.

Der Neoklassizismus des 20. Jahrhunderts lässt sich grob in zwei Hauptströmungen unterteilen: die historistische oder konservative und die modernistische oder progressive.

Der „konservative Neoklassizismus“ bezog sich auf die klassische Architektur der griechischen und römischen Antike und bediente sich ihrer Proportionen, Kompositionsprinzipien und Strukturen. Er lehnte neue Materialien und Technologien nicht ab, sondern machte umfassend Gebrauch davon, lenkte jedoch den Blick auf die Ähnlichkeit mit der klassischen Architektur. Entsprechend griffen die Architekten oft auf Imitationen und Repliken zurück. In Russland wurde damals die einflussreiche Schule Iwan Scholtowskis, eines Anhängers der Neorenaissance und des Neoklassizismus, immer stärker. In Georgien gab es ähnliche Projekte, unter anderem das Gebäude des Heilbads Tbilissi (Architekten Ju. Schitkowski und M. Kalaschnikow, 1937), den Zirkus von Tbilissi (Architekt: М. Neprinzew, 1940) oder auch das Gebäude des armenischen Theaters in Tbilissi (Architekt: М. Kalaschnikow, 1936).

Der „moderne Klassizismus“ setzte auf Transformation. Er wollte das Alte ins Neue integrieren, vor allem, was die neuen Technologien und Materialien und die wirtschaftlichen Aspekte des Bauens betraf. Entsprechend versuchten verschiedene Architekten, einen Kompromiss zwischen Geschichte und Gegenwart zu finden. Ein Grundmerkmal der neoklassizistischen Welle der 1930er Jahre ist wohl die Tendenz zur Vereinfachung. Die Vertreter des modernistischen („nackten“ oder „vereinfachten“) Klassizismus wollten die umfassenden, monumentalen, pompösen, symmetrischen Kompositionen, die den Klassizismus kennzeichnen und die einheitlichen, schematisierten und vereinfachten Architekturdetails, die charakteristisch für die Avantgarde sind, so zusammenzuführen, dass die spezifischen Merkmale beider Strömungen erkennbar blieben. Dabei sollte die Synthese nicht künstlich und nicht beliebig und vor allem nicht ausdruckslos wirken.

Eine Versöhnung zwischen klassischer und zeitgenössischer Architektur strebte auch der Art-déco-Stil an, der in den 1920er Jahren vor allem in den USA große Popularität erlangte. Bisweilen wird auch Architektur aus der Sowjetunion – etwa die der Moskauer Stalin-Hochhäuser – als sowjetisches Art déco eingestuft. Kennzeichnend für Art déco ist eigentlich die völlig freie Synthese von Architekturstilen, auch mexikanischer, indischer, afrikanischer oder ägyptischer Einflüsse. Die sowjetische Architektur nahm diese Entwicklung jedoch nicht, schon weil ihr aufgrund des strengen und konkreten Kanons der Formen, die als klassisches Erbe galten und verwendet werden durften, die Möglichkeit dazu verwehrt blieb. Solche Vorgaben waren unvereinbar mit dem Grundprinzip des Art déco: Freiheit und Vielfalt. Gleichwohl sind einige Merkmale dieses Stils in der sowjetischen Architektur der 1930er Jahre, der Periode des Postkonstruktivismus, anzutreffen. Um diese Zeit war der Begriff des klassischen Erbes relativ weit gefasst. Es wurden nicht nur Elemente der zeitgenössischen Architektur verwendet, sondern auch archaische (z. B. altägyptische oder mesopotamische) Formen und das nationale klassische Erbe der Unionsrepubliken. Mit der Herausbildung des „sozialistischen Klassizismus“ engte sich der Kreis der zulässigen Formen immer weiter ein und es wurde immer strikter festgelegt, was als klassisches Erbe gelten durfte. Maßgeblich war hier vor allem die griechische und römische Antike (wenngleich es auch hier keine scharfen Grenzen gab, wodurch Architekten gelegentlich von den „von oben“ erlassenen Richtlinien abweichen konnten).

Der Postkonstruktivismus ist ein Zwischenstil, der zwischen 1932 und 1937 aufkam und Verbreitung fand in den Jahren des Übergangs vom Konstruktivismus (1917–1932) zum „sozialistischen Klassizismus“ (1937–1954). Deshalb schenken ihm Historiker und Architekten wenig Beachtung. Ihn kennzeichnet vor allem das Bestreben, die konstruktivistische Architektur dezent auszuschmücken. Die postkonstruktivistische Architektur hielt an vielen typischen Elementen des Konstruktivismus fest – der plastisch-räumlichen Struktur, den kargen Formen, den Fensterbändern an den Treppenabsätzen, dem Spiel mit dem Raum, der Geradlinigkeit, den schlichten Mauern. Zugleich wurde die Architektur mit Elementen der klassischen Baukunst „verziert“: Gesimse mit einfachem Profil, Rahmungen offener Räume und Säulenkonstruktionen. Das Ergebnis war eine recht plastische, expressive, experimentelle, dynamische Architektur, die sich die Übertretung stilistischer Grenzen und größere Freiheit auf die Fahnen schrieb.

Der georgische Postkonstruktivismus folgte den allgemeinen sowjetischen Tendenzen, zeigte allerdings im Vergleich zum russischen weniger Experimentierfreude. In den realisierten Projekten tauchten die Grundmerkmale des Postkonstruktivismus in relativ zurückhaltender Form auf: Die Expressivität und der betonte Kontrast zwischen horizontalen und vertikalen Flächen (geschlossenen und verglasten, schweren und leichten, geradlinigen und gerundeten), die zum elementaren Ausdrucksvokabular des Konstruktivismus wie des Postkonstruktivismus gehörten, werden in der georgischen Architektur eher dezent umgesetzt.

Nachfolgend sind einige interessante Beispiele des georgischen Postkonstruktivismus angeführt: Das IMEL-Gebäude – die Niederlassung des Marx-Engels-Lenin-Instituts –, bei dem die typische Hauptfassade im Stalin-Empire-Stil mit der betonten gerundeten Säulenhalle der Hofseiten-Fassade korrespondiert (Tbilissi, Rustaweli-Boulevard, Architekt A. Schtschusew, 1938);

The Marx-Engels-Lenin-Stalin Institute, Tbilisi (designed by Alexey Shchusev, 1938)The Marx-Engels-Lenin-Stalin Institute, Tbilisi (designed by Alexey Shchusev, 1938)© National Archives of Georgia

der obere Block des Hauses der georgischen Regierung (heute das Parlamentsgebäude) mit seinen hypertrophen, der georgischen Architektur entlehnten Fassadenelementen (Architekten: W. Kokorin, G. Leschawa, oberer Block, 1933–1938);

The House of Government, now Georgian Parliament Building, Tbilisi (designed by Viktor Kokorin and Giorgi Lezhava, 1933–1938)The House of Government, now Georgian Parliament Building, Tbilisi (designed by Viktor Kokorin and Giorgi Lezhava, 1933–1938)© National Archives of Georgia

das Haus der Mode, das als gigantische Säulenkonstruktion mit Kapitellen in Lotosform ausgeführt ist (Tbilissi, Saarbrückenplatz, Architekt: G. Chimschiaschwili, 1936).

The Fashion House on Saarbrücken Square, Tbilisi (designed by G. Khimshiashvili, 1936)The Fashion House on Saarbrücken Square, Tbilisi (designed by G. Khimshiashvili, 1936)© National Archives of Georgia

Seit Anfang der 1930er Jahre wurde die Bebauung der Merab-Kostawa-Straße vorangetrieben. Das stand in Zusammenhang mit der baulichen Ausgestaltung des Heldenplatzes und dem Bau der Magistralen, die von dort zum Vake-Park, zum Bahnhofsplatz und nach Saburtalo führten. Es wurden mehrere Gebäude nacheinander errichtet. Dem georgischen Postkonstruktivismus zuzurechnen sind hier etwa das sogenannte Elf-Etagen-Haus,

The “Eleven-Storied building” apartment block, Tbilisi (designed by Mikhail Kalashnikov, 1939)The “Eleven-Storied building” apartment block, Tbilisi (designed by Mikhail Kalashnikov, 1939)© National Archives of Georgia

das Gebäude Nr. 1 der Georgischen Technischen Universität (Institut für Eisenbahntransportingenieure, später Georgisches polytechnisches W.I.-Lenin-Institut)

The First Building of the State Technical University, Tbilisi (designed by Мikhail Neprintsev, 1941)The First Building of the State Technical University, Tbilisi (designed by Мikhail Neprintsev, 1941)© National Archives of Georgia

und das sogenannte Tschaj-Grusija-Verwaltungsgebäude an der Kostawa-Straße.

The administrative building of the “Georgia Tea” trust, Tbilisi (designed by Mikhail Neprintsev, 1936–1941)The administrative building of the “Georgia Tea” trust, Tbilisi (designed by Mikhail Neprintsev, 1936–1941)© National Archives of Georgia

Das Verwaltungsgebäude des Teeverarbeitungs-Trusts Tschaj-Grusija an der Kostawa-Straße (ehemals Lenin-Straße) 41 wurde 1936 von Michail Neprinzew entworfen und von 1937 bis 1941 gebaut. Die Fassadengestaltung verbindet mehrere Raumelemente: Das Zentrum der Hauptfassade ist ein Turm, der in der ersten und zweiten Etage durch einen riesigen Säulengang mit paarweise aufgestellten korinthischen Säulen akzentuiert und von einem Attikageschoss mit offener Bogengalerie gekrönt wird. In der Architektur zeigt sich das Spiel mit Räumen, Asymmetrie und Geometrie. Der größte Teil des Gebäudes ist mit farblich dezentem Putz versehen, das Erdgeschoss und die Säulen sind aus Stein. Die Kapitelle und die Ornamente der Balkongeländer sind der georgischen Baukunst entlehnt. Dies ist nicht mehr die klare, schlichte Formgebung des Konstruktivismus, aber noch nicht das Stalin-Empire mit seiner Symmetrie, überladenen Dekorativität und schablonenhaften Elementen. Vergleichbare Gestaltungsmerkmale weisen auch die Gebäude des Hotels Moskwa (Architekten: A. Schtschussew, L. Sawejew, O. Stapran, 1932–1935) und das Wohnhaus der Akademie der Wissenschaften in Kyjiw (Architekt: A. Nedopaka, 1936) auf.

Mit Blick auf die architektonische Dynamik und das Bestreben, klassische und moderne Architektur auf unkonventionelle Weise zu verbinden, kann man auch das Gebäude Nr. 1 der Georgischen Technischen Universität (Architekten: M. Neprinzew, N. Glaskow, 1937–1956) dem Postkonstruktivismus zuordnen.

Der Bau nimmt einen ganzen Straßenblock ein. Die Fassade zur Kreuzung Merab-Kostawa-Straße/Simon-Tschikowani-Straße ist besonders sorgfältig ausgestaltet. Die Fassade zum Platz hin ist kompositorisch vor allem durch den mit paarweise angeordneten Pilastern verzierten und durch Bogenfenstern geteilten gerundeten Bereich hervorgehoben. Die gewölbte Stromlinienform dieses Baukörpers wird durch die gebrochenen, geometrischen Formen der Eckfassade abgelöst. Diese ist um eine halbkreisförmige, von zwei Treppenhäusern eingerahmte Plattform herum angeordnet, hat die Form eines abgeschnittenen Dreiecks und besteht aus drei Ebenen, die durch eine zentrale Säulenhalle akzentuiert werden. Die Fassade zeichnet sich nicht nur durch ihre Formenvielfalt (geometrisch, gebrochen, gerundet und stromlinienförmig), sondern auch durch die unterschiedliche Art der Bearbeitung aus. Der obere Teil, der in der zweiten Phase gebaut wurde, ist überladener. Hier geht die dekorative Ausgestaltung eindeutig über die für den Postkonstruktivismus der 1930er Jahre typische dezente Fassadendekoration hinaus. Für die untere Eckfassade gilt das nicht. Dort ist die architektonische Komposition zurückhaltend, einfach und schlicht gehalten. Die für den Konstruktivismus charakteristische Geometrie, die mit Hilfe horizontaler und vertikaler Linien erzeugte architektonische Dynamik, ist deutlich erkennbar. Entsprechend der neuen Anforderungen ist die Fassade mit Natursteinen, Pilastern, Säulenkonstruktionen und Gesimsen angereichert, wobei all diese Details ein einfaches Profil aufweisen und dazu dienen, den Bau „maßvoll zu dekorieren“. Ähnliche Konzeptionen sind auch beim Gebäude der Oblast-Miliz in Kyjiw (Architekt: P. Sawytsch, 1934), beim Wohnhaus des NKWD in Kyjiw (Architekt: G. Ljubtschenko, 1934–1935) und beim Gebäude des Bezirks-Fernmeldeamts in Chabarowsk (Architekt: M. Belewanzew) anzutreffen. Zwischen diesen beiden verschiedenartigen Fassaden erstreckt sich ein langer Arm des Gebäudes entlang der Kostawa-Straße und passt sich an ihre Kurve an. Das Erdgeschoss der nach innen gewölbten Fassade ist mit massivem Natur-Granitstein verkleidet, auf dem ein mit Pilastern verzierter Mittelteil mit rechteckigen Fenstern aufsitzt, der sich über drei Stockwerke erstreckt.

Der ganze Bau fügt sich perfekt in die Umgebung ein. Seine Form und sein Verhältnis zur Umgebung haben die Entwicklung dieses Areals maßgeblich geprägt. Die Krümmung des Baus wird nicht nur vom gegenüberliegenden Universitätsbau Nr. 2 in der Kostawa-Straße 69 reflektiert, sondern auch von den Konturen der Wohngebäude (Kostawa-Straße 71, Peking-Straße 2) und dem Elf-Etagen-Haus.

1939 begann dort, wo die Tscheljuskizew-Straße auf die W.I.-Lenin-Straße traf (heute: Königin-Tamar-Straße und Merab-Kostawa-Straße) der Bau eines mehrstöckigen Wohnhauses. Der Entwurf von Kalaschnikow stach durch seine Dimensionen hervor. Der Turm des elfgeschossigen Hauses war 1930 das höchste Gebäude in Tbilissi, und es wird aus alter Gewohnheit bis heute als Elf-Etagen-Haus bezeichnet. Die Hauptfassade des 165 Meter langen, bogenförmigen Baus, die auf den Heldenplatz und die Kostawa-Straße hinausgeht, gliedert sich in drei unabhängig voneinander gestaltete Teile mit jeweils eigenem kompositorischen Schwerpunkt und eigener Fassadendekoration. Sie fügen sich zu einem harmonischen Ensemble und lockern die lange Fassade auf.

Wie das Gebäude der Technischen Universität ist das Elf-Etagen-Haus durch schlichte, geometrische Formen und zurückhaltende Dekoration geprägt. Und wie das Tschaj-Grusija-Verwaltungsgebäude kombiniert es auf charakteristische Weise das Flächenspiel, die Kontrastierung von vertikaler und horizontaler Linienführung mit dezent dekorativen Elementen. Vergleichbare Projekte sind auch in anderen Städten der ehemaligen Sowjetunion anzutreffen.

Das Tschaj-Grusija-Verwaltungsgebäude ist heute so gut wie völlig zerstört, nur die Fassade ist erhalten geblieben. Vom Spiel der Räume und Flächen, das dem Bau sein architektonisches Gesicht und seinen Charakter verlieh, ist nichts mehr übrig. Das Elf-Etagen-Haus wurde mit einem Aufbau versehen, der es seiner gestalterischen Klarheit und Schlichtheit beraubt hat. Die Neugestaltung des Heldenplatzes und die neue, chaotische Bebauung des Blocks hinter dem Quartal haben die Wahrnehmung des Gebäudes und des gesamten Areals grundlegend verändert.

Wir stehen heute vor der Herausforderung, die historische, städtebauliche und kulturelle Bedeutung des architektonischen Erbes zu bewerten und es angemessen zu interpretieren. Leider geschieht dies jedoch nicht. Nicht nur einzelne Objekte werden vor unseren Augen zerstört, sondern sogar komplette architektonische Ensembles. So konnte das oben beschriebene IMELI-Gebäude nur dank ungeheurer Anstrengungen der Zivilgesellschaft gerettet werden. Dabei ist sein Erscheinungsbild durch die radikale, unbedachte und ungerechtfertigte Einmischung der kommunalen Behörden verändert worden: Dem Bau wurde ein Hochhaus mit Glasfassade beigestellt, die rückseitige Fassade verändert und die Inneneinrichtung völlig erneuert.

Die Beziehung zum sowjetischen Erbe ist in Georgien heute ambivalent. Fraglos hat die sowjetische Architektur es selbst unter Zensurbedingungen vermocht, interessante Werke hervorzubringen, die das Antlitz der georgischen Städte entscheidend mitgeprägt haben. Gegen Ende der 1930er Jahre waren die Suche, die Experimente, die individuellen Lösungen, die den Konstruktivismus auszeichneten, nicht mehr erwünscht. Die Rahmenkonzeption des Stalin-Empire kam auf und mit ihrer Einförmigkeit trieb sie der sowjetischen Architektur die Kreativität und Individualität aus. Obgleich der georgische Postkonstruktivismus weniger expressiv und experimentierfreudig war als der russische, fallen die Bauten aus dieser Zeit durch unkonventionelle, interessante Gestaltungsansätze auf.

Die damals errichteten Gebäude sollten von der Größe, Macht und Unzerstörbarkeit der Sowjetunion künden. Heute gibt es die Sowjetunion nicht mehr, aber ihre Architektur ist noch da. Sie erzählt eindrucksvoll die Geschichte eines Staates, der nicht nur Menschen unterdrückte, sondern auch Architekturstile. Dieses auf eine trügerische Einheit gegründete Land und seine Architektur sind ein unabtrennbarer, wenn auch wenig erquicklicher Teil unserer Vergangenheit. Diese Geschichte werden wir jedoch nicht ändern, indem wir Gebäude zerstören.

Aus dem Russischen übersetzt von Anselm Bühling

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