13 July 2023Armenia

Die Kunst des Möglichen

Wie die Außenpolitik Armeniens heute aussehen müsste – eine Analyse des Po-litologen Mikael Soljan

by Mikayel Zolyan
© Har Toum


Հայերեն   English   Deutsch   Русский


Im Hier und Jetzt sein

„Sei jetzt hier“. So hieß das Buch von Ram Dass (alias Richard Alpert), einer der geistigen Gurus der 1960er Jahre. Wahrscheinlich besteht das Problem des größten Teils der armenischen Gesellschaft eben darin, dass es uns nicht gelingt, „im Hier und Jetzt zu sein“ – gerade dann nicht, wenn es um Arzach geht [Die Republik Arzach ist ein international nicht anerkannter De-facto-Staat in Bergkarabach, der überwiegend von Armeniern bewohnt wird. Der Europarat und die Vereinten Nationen betrachten das Gebiet als Bestandteil Aserbaidschans – Anm. d. Red.]

Was ist mit uns los und was müssen wir tun? Um diese Frage zu beantworten, sollten wir uns auf die aktuelle Lage konzentrieren, sie verstehen, akzeptieren („akzeptieren“ heißt nicht „hinnehmen“) und den Umständen entsprechend handeln, ohne uns dabei vor der Realität zu verstecken, wie unangenehm sie auch sein mag. Es gibt viele Tricks, um ihr zu entkommen, die wir — bewusst oder unbewusst — einsetzen. In der armenischen Gesellschaft gibt es dafür viele Beispiele: Aufrufe von Politikern, Auftritte von Experten und Meinungsführern, Posts in sozialen Medien. Es scheint, dass viele die Augen verschließen, um die reale Situation nicht zu sehen, in der sich Armenien und Arzach in den vergangenen Jahren befunden haben. Sie versuchen, die Mythen, Stereotype und Vorstellungen zu bewahren, mit denen wir mehrere Jahrzehnte gelebt und die unsere Außenpolitik beeinflusst haben. Es sind Mythen und Stereotype, die zu jener Krise führten, in der wir uns heute befinden.

Konstruktive Ausreden

Die neusten Verlautbarungen des armenischen Ministerpräsidenten legen zum wiederholten Male Zeugnis davon ab: Nikol Paschinjan hat erklärt, dass Armenien bereit sei, die 86 600 km² umfassende territoriale Integrität Aserbaidschans anzuerkennen – unter der Bedingung, dass Aserbaidschan die 29 800 km² umfassende territoriale Unversehrtheit Armeniens anerkennt. Diese Erklärung folgte auf eine Erklärung von Charles Michel nach einem Treffen in Brüssel, in der eine ähnliche Formulierung zu finden war.

Die Verlautbarungen von Michel und Paschinjan lösten in den armenischen sozialen Netzwerken und Massenmedien heftige Reaktionen aus. Diese Reaktionen waren vorhersehbar: In den letzten drei Jahrzehnten hatte kein armenischer Staatschef solche Erklärungen abgegeben, – aber auch nicht das Gegenteil behauptet. Weder Ter-Petrosjan, der den Ruf eines Diplomaten hatte, noch Kotscharjan, den man für einen „Falken“ hielt, noch Sarkissjan, der bekannte Schach-Enthusiast, noch Paschinjan, dem man oft Populismus vorwirft, – keiner von ihnen hatte bislang von der Anerkennung der Unabhängigkeit Arzachs gesprochen. Armeniens Position zum Status von Arzach ist letztlich nie ganz klar gewesen und ließ sich unterschiedlich interpretieren, was die armenische Führung auch immer ausgenutzt hat. In der Diplomatie nennt man das „konstruktive Ambiguität“, im Jerewaner Straßenslang der 1990er Jahre sprach man von Ausreden.

Paschinjans Erklärung war eigentlich keine Überraschung. Schon seit dem Frühjahr 2022 hat er diesen Gedanken immer wieder zum Ausdruck gebracht und dabei vage Formulierungen verwendet, die sich unterschiedlich interpretieren ließen.

So sagte er im April 2022, dass die Weltgemeinschaft vorschlage, unsere „Forderungen zum Status von Bergkarabach herunterzuschrauben“. In dieser Zeit gab es in Jerewan Demonstrationen der Opposition. Sie dauerten einige Monate an, führten aber zu keinem Ergebnis und verdeutlichten nur die Tatsache, dass die Opposition die Macht nicht in die Hand nehmen kann oder will.

Im September 2022, nach dem großangelegten Angriff Aserbaidschans auf die international anerkannten Grenzen Armeniens, verkündete Paschinjan in der Nationalversammlung, dass er bereit sei, gemeinsam mit Aserbaidschan ein Dokument zu unterschreiben, wenn dieses Dokument die 29 800 km² umfassende territoriale Integrität Armeniens garantiere. Daraufhin organisierte die Opposition erneut eine Demonstration, tausende Menschen versammelten sich blitzschnell zu einer Kundgebung, aber schon bald legten sich die Proteste wieder.

Der Machtkampf und die Bergkarabach-Frage

Im Mai dieses Jahres schließlich, gleichzeitig mit der Brüsseler Erklärung und dem letzten Auftritt von Paschinjan, kam das innenpolitische Leben Armeniens wieder in Bewegung. Zu den wichtigsten Ereignissen dieser Zeit gehörten der Versuch, den Sohn des Ministerpräsidenten, Aschot Paschinjan, zu entführen, an dem auch Familienmitglieder von Soldaten beteiligt waren, die im Krieg von 2020 gefallen waren. Außerdem gab es Straßenaktionen und Kundgebungen in Kornidzor und Sjunik, organisiert von der parlamentarischen Opposition.

Diesmal war der Kampf der Opposition jedoch zu Ende, ehe er überhaupt begonnen hatte. Als Gajane Akopjan, der versuchten Entführung von Aschon Paschinjan beschuldigt, per Gerichtsbeschluss inhaftiert wurde, zogen sich ihre Verteidiger aus dem Verfahren zurück. In ihrer Erklärung hieß es, dass „sich alle Ereignisse der letzten Tage vor ihren Augen abgespielt haben. Deswegen kann es niemanden verwundern, wenn wir sagen, dass die Rechtsmittel für eine effektive Verteidigung von Frau Gajane ausgeschöpft sind“. (Es scheint, dass sie im Gegenteil gerade unter diesen Umständen ihre menschenrechtlichen Instrumente im vollen Umfang hätten einsetzen müssen). Auch die Kundgebung in Kornidzor führte zu keinen Ergebnissen.

So stellt sich die Frage: Wie ist es dazu gekommen, dass die Opposition das Bergkarabach-Problem nicht für den realen Kampf um die Macht verwenden konnte oder wollte? Jahrzehntelang galt dieses Problem als Schlüsselproblem des innenpolitischen Lebens von Armenien. Es verhalf vielen Politikern dazu, an die Macht zu kommen, und manchmal war es auch der Grund für den Machtverlust. Viele können sich noch daran erinnern, wie Karen Demirtschjan, der Erste Parteisekretär des sowjetischen Armeniens, 1988 seine Macht verlor, nachdem er sich an die auf dem Platz versammelte Menge mit den Worten gerichtet hatte: „Karabach ist nicht in meiner Tasche, sodass ich es rausholen und euch geben könnte.“ Die daraufhin an die Macht gekommenen Politiker der „Armenischen Allnationalen Bewegung“ (AAB), die auf die Wiedervereinigung von Bergkarabach mit Armenien gesetzt hatten, und selbst Lewon Ter-Petrosjan, wurden abgesetzt, als sie versuchten, der Gesellschaft in dem Konflikt eine Kompromisslösung anzubieten. Damals galt so etwas fast als Hochverrat , und die „Silowiki“ aus dem Team von Ter-Petrosjan, mit Verteidigungsminister Wasken Sargsjan an der Spitze, zwangen ihn zum Rücktritt. Die Nachfolger Robert Kotscharjan und Sersch Sargsjan haben aus der Erfahrung ihrer Vorgänger einiges gelernt und innerhalb Armeniens nie über Kompromisse in Sachen Bergkarabach gesprochen, bei internationalen Verhandlungen hat man zwar verschiedene Varianten besprochen, die auch die Abtretung von sieben Bezirken an Aserbaidschan vorsahen, aber von der Anerkennung der Unabhängigkeit Arzachs ist dabei nie die Rede gewesen.

Viel Lärm — und nichts

Heute geht Nikol Paschinjan gegen diese schon jahrelang bestehende Tradition vor, aber es passiert nichts. Es gibt viel Lärm in den Medien, in den sozialen Netzwerken, es gibt öffentliche Auftritte verschiedener Personen unterschiedlicher politischer Meinung, von Politikern, Experten, Intellektuellen, — kurzum von all denen, die man mit den Worten des sowjetischen Schriftstellers Jewgeni Schwarz als „beste Köpfe der Stadt“ bezeichnen könnte. Es scheint eine ideale Möglichkeit für die Opposition, auf die Straße zu gehen und die „volksfeindliche“ Regierung der „Verräter“ und „Defätisten“ zu stürzen. Wie es ein wütender Nutzer in den sozialen Medien mit den Worten von Paschinjan aus der Revolutionszeit von 2018 zum Ausdruck gebracht hat: „Die Macht liegt auf der Straße, man muss nur hingehen und sie sich nehmen.“ Aber außer Lärm gibt es nichts. Dieses Szenario hat sich seit dem Frühjahr 2022 drei Mal wiederholt. Und die Opposition, statt die auf der Straße liegende Macht zu ergreifen, beschränkte sich jedes Mal nur auf das, was man als Schaumschlägerei und Vortäuschen von Aktivität bezeichnen könnte.

Dem kann man widersprechen und sagen, dass die Oppositionsführer Robert Kotscharjan und Sersch Sargsjan schon so diskreditiert sind, dass ihnen niemand folgen würde. Das ist schwer zu widerlegen. Aber erstens darf man nicht vergessen: 2021 ist ihnen ein Viertel der armenischen Wähler gefolgt. Die Mehrheit davon wäre bereit, die vorrevolutionäre Vergangenheit zu vergessen in der Hoffnung, dass diese Leute, die sich als „starke Führer“ positioniert haben, einen Durchbruch im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt erreichen. Und zweitens: Wenn sich die „Ehemaligen“ endgültig diskreditiert haben, ist es nicht eine wunderbare Gelegenheit für die neuen Stimmen, sich Gehör zu verschaffen? Ginge es um ein anderes Land im postsowjetischen Raum, so könnte man sagen, dass die Oppositionellen keinen Zugang zu den Medien haben. Aber in Armenien ist dieses Argument schon längst vom Tisch, denn an Medien, die die Regierung kritisieren, mangelt es nicht, und sie lassen mit großer Freude die Gegner von Paschinjan in ihren Sendungen auftreten. Die Hauptinformationsquelle in Armenien ist heute nicht das Fernsehen, sondern das Internet. Wenn Sie Zweifel daran haben, suchen Sie im Internet nach Wardan Gukasjan, der der Öffentlichkeit auch als „Dog“ bekannt ist.

Das Problem liegt also woanders.

Alternativlos

Warum nutzt die alte, die neue und die künftige Opposition die Verlautbarungen Paschinjans nicht, um ihn zu stürzen? Die mit Paschinjan unzufriedenen Social-Media-User haben diese Frage gestellt, aber keine Antwort darauf gefunden.

Ich habe eine Antwort darauf, die für viele in Armenien so offensichtlich wie inakzeptabel ist. Sowohl die politischen Eliten als auch die überwiegende Mehrheit des armenischen Volkes verstehen sehr gut, dass der Weg, den Paschinjan eingeschlagen hat, fast alternativlos ist. Falls es vielleicht doch eine Alternative gibt, ist sie offensichtlich mit viel größeren Risiken verbunden als die heutige Situation. Jeder führende Politiker, der mit seinem Team heute an die Macht kommt, wäre gezwungen, fast das Gleiche zu tun, was Paschinjan und seine Partei „Zivilvertrag“ getan haben. Es könnte Unterschiede in der Taktik geben. Es könnte Unterschiede im „Dekor“ geben: Der jeweilige Politiker könnte besser Russisch oder Englisch sprechen, er könnte bessere Beziehungen zu den Eliten in Russland oder im Westen haben, besser oder schlechter mit den Medien kommunizieren. Aber letzten Endes wird das Gleiche gemacht werden. Oder eben nicht – und dann warten weitere Katastrophen auf Armenien.

Und hier kommen wir zu der Frage, warum die Opposition den Platz von Paschinjan nicht einnehmen kann oder dies, wie es aussieht, nicht will: Wenn die Opposition Paschinjan stürzt und die national-patriotische Karte ausspielt, wird sie vor einem Dilemma stehen. Sie kann dann entweder eine Politik verfolgen, die ihrer Rhetorik entsprechen und das Land in eine Katastrophe führen würde, oder sie kann den politischen Kurs ändern und das tun, was Paschinjan heute eben tut. Die Opposition verliert dann unweigerlich die Verbündeten, die ihr einmal geholfen haben. Viel wichtiger aber ist die Tatsache, dass die Staatsmacht heute gezwungen ist, sich auf alle Gefahren und Risiken einzulassen, die mit dem von Paschinjan eingeschlagenen Weg verbunden sind. Warum sollte sich die Opposition mit einer solchen Verantwortung belasten, wenn sie nur abwarten muss, bis Paschinjan alles getan hat, was getan werden muss? Und später, wenn alle nötigen Papiere schon unterzeichnet sind, kehrt die Opposition auf die politische Bühne zurück und versucht wieder, die Macht zu ergreifen.

Welchem Weg müsste jeder führende Politiker Armeniens heute also folgen? Und warum ist dieser Weg alternativlos? Es ist ziemlich leicht, diese Frage zu beantworten, wenn wir uns von den alltäglichen Streitereien distanzieren und versuchen, das Gesamtbild im Auge zu behalten. Und das Gesamtbild sieht folgendermaßen aus: Wir versuchen das maximal einfach und knapp zu beschreiben, ohne zu sehr insDetail zu gehen. Und uns dabei, dem guten Rat von Ram Dass folgend, auf die Gegenwart zu konzentrieren, ohne darauf einzugehen, warum es dazu gekommen ist, wer daran schuld ist, ob es hätte vermieden werden können usw.

Ein kalter Friede

Versuchen wir also, die Situation zu skizzieren. Armenien hat einen Konflikt mit Aserbaidschan. Aserbaidschans Territorium, Bevölkerung und Ressourcen sind größer als die Armeniens und es hat, was wichtig ist, einen mächtigen Verbündeten, die Türkei. Früher ist der Faktor Türkei durch den Faktor Russland als Garant für Armeniens Sicherheit ausgeglichen worden. Heute aber kann und will Russland diese Funktion nicht mehr erfüllen. Mehr noch, Russland ist heute nicht einmal imstande, Waffen nach Armenien zu liefern. Außerdem ist Russland auf internationaler Ebene toxisch geworden. Die russländischen Friedenstruppen in Arzach können oder wollen den aggressiven Schritten Aserbaidschans offenbar keinen Widerstand entgegensetzten, und ihre künftige Präsenz in Arzach steht in Frage.

Wer kann Russland ersetzen? Der Westen scheint bereit zu sein, in gewissem Maße die Funktion eines Garanten für die Sicherheit Armeniens zu erfüllen, aber nur unter der Bedingung, dass wir eine gemeinsame Sprache mit unseren Nachbarn finden und einen Friedensvertrag mit ihnen abschließen. Es ist noch nicht ganz klar, wie weit der Westen in dieser Frage zu gehen bereit ist. Es sieht so aus, als ob der Westen bereit wäre, als Garant für einen Friedensvertrag aufzutreten und sogar politischen Druck auf unsere Nachbarn auszuüben, damit sie nicht viel zu viel von uns verlangen, unter anderem in Bezug auf die Grenzen Armeniens und auf den sogenannten „Korridor“. In einem optimistischen Szenario könnte der Westen ethnische Säuberungen in Arzach verhindern, auch wenn nicht klar ist, wie das zu bewerkstelligen wäre. Iran ist ebenfalls bereit, in einigen Fragen zu helfen, zum Beispiel, die Sicherheit von Sjunik zu gewährleisten. Aber die Unterstützung des Westens und des Iran wird selbst in einem sehr optimistischen Szenario nicht darüber hinaus gehen. Mit anderen Worten, weder Russland noch der Westen oder Iran und andere globale Player sind bereit, im Kampf auf Leben und Tod mit Aserbaidschan und der Türkei als unsere Verbündete aufzutreten, geschweige denn die Unabhängigkeit von Arzach zu unterstützen.

Gerechtigkeit halber muss man sagen, dass diese Situation außer Risiken, Gefahren und schmerzhaften Zugeständnissen auch Chancen birgt. Bis jetzt konzentriert sich das innerarmenische Gespräch auf die Risiken und Gefahren. Und wenn das für die Opposition in gewissem Sinne logisch ist, – dass Paschinjan und sein Team diesen Diskurs ebenfalls beibehalten, zeugt davon, wie ineffektiv die Kommunikationsstrategie der Regierung ist. Wie dem auch sei, solange es Armenien gelingt, einen neuen Krieg zu vermeiden und im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine Neutralität zu wahren, eröffnen sich vor uns neue Möglichkeiten. So hat Armenien 2022 nicht nur ein beispielloses Wirtschaftswachstum erlebt, sondern auch einen beispiellosen Zustrom an Migranten, wobei wir bis jetzt nicht in vollem Ausmaß begreifen, welche Chancen sich für unser Land in diesem Zusammenhang auftun. Noch wichtiger aber ist es, dass es jetzt die Möglichkeit gibt, sich aus der neokolonialen Abhängigkeit von Russland zu befreien und ein wirklich unabhängiges und souveränes Land zu werden.

Das betrifft auch jenes Potenzial, das sich entfalten wird, wenn die Beziehungen zu Aserbaidschan und zur Türkei vom – mal hybriden, mal „heißen“ – Krieg wenigstens in einen „kalten Frieden“ übergehen. Wir leben schon so lange im „heißen“ oder im „kalten“ Krieg, dass wir an die Möglichkeit eines realen Friedens nicht mehr glauben. Vielleicht ist es auch richtig, dass wir nicht daran glauben. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sich die Welt und unsere Region ändern und dass diese Veränderungen auch unsere Länder betreffen können, sodass der „kalte“ oder auch der „heiße“ Krieg wenigstens durch einen „kalten Frieden“ ersetzt werden könnte. Auf viel mehr kann man heute, selbst im Fall eines sehr optimistischen Szenarios, kaum hoffen. Doch selbst ein erzwungener und von außen oktroyierter Friede wird für alle Länder der Region neue Möglichkeiten eröffnen. Und es geht dabei nicht nur um neue Straßen, um Handel oder Investitionen, sondern auch um neue Horizonte der sozialen und kulturellen Entwicklung.

Drei Wege

Was kann Armenien also angesichts aller Risiken und Möglichkeiten in dieser Situation tun und was nicht? Es gibt drei Wege: sich auf eine neue Konfrontation einlassen, den Konflikt einfrieren oder versuchen, ihn zu lösen. Beginnen wir mit der offensichtlichsten Option:

Es ist klar, dass großangelegte militärische Zusammenstöße vermeiden werden sollte. Angesichts des derzeitigen Kräfteverhältnisses könnten diese negative Folgen haben, wie etwa die Besetzung von neuen Teilen der international anerkannten Territorien Armeniens sowie ethnischer Säuberungen der in Arzach verbliebenen armenischen Bevölkerung. Natürlich kann eine Situation entstehen, in der ein Krieg unvermeidbar wird. Wir sollten auch auf ein solches Szenario vorbereitet sein, aber es ist offensichtlich, dass dieses Szenario das gefährlichste ist. Jeder Schritt hin zum Krieg ist kontraproduktiv. Dazu gehört auch eine harte Rhetorik, ganz gleich, wie gut sie einem Teil der Bevölkerung Armeniens gefällt. Außerdem wäre im Fall eines militärischen Szenarios die Unterstützung seitens der Weltgemeinschaft für eine Beendigung des Krieges eher wahrscheinlich, wenn alle Seiten wissen, dass nicht Armenien den Krieg angefangen hat. Das sind alles einfache Wahrheiten, aber jedes Mal, wenn Aliyev eine neue Provokation in Gang setzt, hört man in Armenien, dass diese Schritte von Aliyev die Konsequenz aus der „Friedensagenda“ Paschinjans seien.

Der andere Weg wäre, den Konflikt einzufrieren. Man muss zugeben, dass diese Herangehensweise eine gewisse Logik hat. In dieser Logik wird jede Lösung des Konflikts ungerecht, da sie eher den Interessen Aserbaidschans entsprechen würde. Man könnte davon ausgehen, dass sich die Situation ändert, und wenn es uns gelingt, den Konflikt heute einzufrieren, könnte sich in zwei, fünf oder zehn Jahren eine Lösung finden, die gerechter und ausgewogener sein wird. Da aber stellt sich die Frage: Und was passiert, wenn sich die Situation plötzlich zu unseren Ungunsten verändert? Erstens ist es nicht zu übersehen, dass die früheren Versuche Armeniens, den Konflikt auf Eis zu legen, dazu geführt haben, dass die Position Aserbaidschans gestärkt und unsere Position geschwächt wurde. Zweitens haben wir heute keine Ressourcen, um den Konflikt unter für uns günstigen Bedingungen auf Eis zu legen. Die Situation einfrieren zu lassen, das würde bedeuten, sich auf Russland zu stützen, aber Russland selbst befindet sich heute in einer Krise und ist nicht bereit, als Garant für diesen eingefrorenen Zustand einzutreten (was nach dem Treffen in Sotschi im Herbst 2022 praktisch offiziell festgehalten wurde). Das wahrscheinlichste Ergebnis bei dem Versuch, den Konflikt einzufrieren, wird entweder eine zeitweilige Verschiebung der ethnischen Säuberungen in Arzach sein – oder deren langsamere und „weichere“ Umsetzung, in Absprache mit russländischen Friedenskräften, ohne zu viel Lärm und Brutalität, was eigentlich im Interesse von Aliyev ist. Wir haben schon gesehen, wie das gemacht wird, von Chtsaberd bis hin zu Paruch und der Einrichtung des Grenzübergangs im Latschin-Korridor. Sich auf dieses Szenario zu verlassen, wäre heute ziemlich gefährlich.

Was also kann Armenien tun? An der Lösung des Konflikts arbeiten und sich dabei mehr oder weniger realistische Ziele setzten:

● Wiederherstellung der territorialen Integrität Armeniens, die Befreiung der besetzten Gebiete

● Konstituierung einer tatsächlichen Unabhängigkeit und Souveränität Armeniens

● Garantien für die internationale Sicherheit Armeniens, was auch Armeniens Beitritt zu internationalen Sicherheitsstrukturen beinhalten könnte, um einen neuen Angriff Aserbaidschans und der Türkei langfristig unmöglich zu machen.

● Reform der staatlichen Institutionen, unter anderem die Einrichtung unabhängiger und effektiver Sicherheitsstrukturen (was ohne die beiden zuvor genannten Ziele kaum vorstellbar ist)

● Fortbestand der armenischen Bevölkerung in Arzach mit einem entsprechenden Status, der es den Armeniern erlaubt, weiterhin in Arzach zu leben, ohne dass ihre Sicherheit bedroht und ihre Freiheit eingeschränkt wird.

Die Wege zum Erreichen dieser Ziele sind mehr oder weniger klar, auch wenn ihre Umsetzung sehr schwierig ist. Man muss in erster Linie den Dialog mit Aserbaidschan und der Türkei fortsetzen. Als Grundlage dafür muss Armenien einen gerechten und dauerhaften Frieden auf der Basis des internationalen Rechts und der Achtung der Menschenrechte erreichen. Den provokativen Aussagen und Drohungen vonseiten Aserbaidschans und der Türkei sollte man keine harte Rhetorik entgegensetzen, sondern ein Konzept, das auf demokratischen Werten aufbaut und die Sprache der Macht und Gewalt vermeidet. Ein Konzept, das auf Menschenrechten und dem internationalen Recht fußt, wird nicht nur von der Weltgemeinschaft verstanden, sondern bietet auch Aserbaidschan und der Türkei keinen weiteren Anlass für kriegerische und andere feindliche Handlungen.

Sofern die Bereitschaft zum friedlichen Dialog in Aserbaidschan und der Türkei Zuspruch findet, könnte das die Grundlage für eine realistische Regelung des Konflikts und für Frieden in der Region sein. Angesichts des Charakters der Regime von Aliyev und Erdogan aber wird es wahrscheinlich nicht dazu kommen. Doch man darf den Einfluss des Friedensdiskurses auf die Nachbargesellschaften nicht unterschätzen, besonders wenn internationale Vermittler in dieser Richtung aktiv sind.

Zweitens, selbst wenn Erdogan und Aliyev Armenien weiterhin als Feind sehen, wird eine Rhetorik, die auf den Ideen des Friedens und des Dialogs basiert, trotzdem von Nutzen sein und dabei helfen, mehrere Ziele zu erreichen: Sie wird den Verhandlungsprozess aufrecht erhalten, sie wird verhindern, dass Aliyevs Regime einen neuen großangelegten Krieg anzettelt, und sie wird der Weltgemeinschaft zeigen, dass Armenien Frieden anstrebt. Natürlich sind dieser Dialog und selbst die Unterzeichnung eines Dokuments keine hundertprozentige Garantie für Frieden. Aber ein Dialog mit der Türkei und Aserbaidschan wird zumindest die Wahrscheinlichkeit von Gewalt, von neuen Zwischenfällen und Krieg mindern, deswegen muss Armenien ihn fortsetzen.

Ein anderer Weg ist die Arbeit mit dem Westen und mit Russland. Es ist offensichtlich, dass Armenien westliche Unterstützung braucht, um sich aus seiner neokolonialen Abhängigkeit von Russland zu befreien. Ohne diese Unterstützung ist es unmöglich, eine solche Aufgabe zu lösen. Aber ist es auch klar, dass Russland sehr wahrscheinlich in der Region auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen wird. Ein Konflikt mit Russland käme Armenien teuer zu stehen. Deswegen bedeutet die Loslösung aus dieser Abhängigkeit bei weitem nicht, dass Armenien als Russlands Feind auftreten muss. Sich aus der neokolonialen Abhängigkeit von Russland zu befreien und dabei pragmatische Beziehungen zu Russland aufrechtzuerhalten, ist eine ziemlich komplizierte Aufgabe. Aber es scheint, dass viele der sogenannten „Verbündeten“ Russlands genau dieses Ziel im Auge haben, darunter auch Aserbaidschan und Kasachstan und Kirgisistan, Armeniens Partner in der Eurasischen Wirtschaftsunion. Heute geht auch Armenien diesen Weg, und das ist nicht so sehr die freie Entscheidung der regierenden Elite, sondern eine objektive Notwendigkeit.

Und zuletzt die dritte Zielsetzung, die komplizierteste: Der Kampf um die Rechte und die Sicherheit von Armeniern in Arzach. Trotz anders lautender Behauptungen bedeutet die Anerkennung der territorialen Integrität von Aserbaidschan nicht, dass auf den Schutz der Rechte von Armeniern in Arzach verzichtet wird. Tatsächlich bedeutet es, dass das Arzach-Problem umformuliert werden muss: Deren Kern kann nicht mehr der Kampf zwischen dem armenischen und aserbaidschanischen nationalen Projekt um ein bestimmtes Territorium sein, sondern die Frage, wie man für die Menschen, die auf diesem Territorium leben, Sicherheit, Freiheit und Wohlergehen gewährleistet. Die Frage nach dem Status der Region muss natürlich gestellt werden, aber dieser Frage muss die Frage nach den Rechten vorangehen und nicht andersherum. Gleichzeitig muss man die Situation realistisch sehen und sich darüber im Klaren sein, dass der erwünschte Status von Arzach nicht zu den Problemen von heute oder sogar von morgen gehört. Die erstrangige Aufgabe für das Heute ist, solche Bedingungen in Arzach zu erschaffen, damit es ein von Armeniern bewohntes, selbstverwaltetes Territorium bleibt.

Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Aber man muss es versuchen. Und jede armenische Führung, die im Interesse Armeniens handelt, ist dazu verdammt, diesen Weg einzuschlagen. Es scheint, dass ein bedeutender Teil der armenischen Gesellschaft auch nicht mehr bereit ist, sich von patriotischen Parolen leiten zu lassen, sondern auf echte, pragmatische Lösungen wartet. Leider musste die armenische Gesellschaft einen hohen Preis zahlen, um diese Reife zu erlangen. Aber diese Reife an sich macht Hoffnung.

Aus dem Russischen übersetzt von Marina Koreneva

LATEST
Das Leben unterm TischBelarus
Das Leben unterm Tisch 

Im Angesicht der ungewissen Zukunft spielt eine belarussische Schriftstellerin mit der Vergangenheit

20 December 2023
Russlands MitschuldArmenia
Russlands Mitschuld 

Wie Russland im Spiel um seine eigenen geopolitischen Interessen den Berg-Karabach-Konflikt als Trumpf nutzte

12 December 2023