31 October 2023Georgia

Der Kampf um das Justizsystem in Georgien

Mehrheitsprinzip und Verrechtlichung im Dienst der Clans

by Vakhushti Menabde
© ifact.ge


Die Unabhängigkeit der Justiz ist für Georgien ein Schlüsselproblem, das bis heute nicht gelöst ist – trotz umfassender internationaler Unterstützung (so hat insbesondere die GIZ, die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, die Vorbereitung einer Justizreform über lange Jahre begleitet). Nach der Rosenrevolution von 2003 erlag die Regierung der Versuchung, sich das Justizsystem zu unterstellen. Die heutige Regierungspartei Georgischer Traum hat schließlich nach der Machtübernahme ihr eigenes Modell zur Unterordnung des Justizsystems geschaffen. (Eine besondere Ironie liegt hier darin, dass Schalwa Papuaschwili, Mitglied der Regierungsfraktion und Präsident des georgischen Parlaments, jahrelang bei der GIZ am Justizreform-Projekt mitgearbeitet hat.) Im vorliegenden Artikel beschreibt Wachuschti Menabde, Bürgeraktivist und außerordentlicher Professor an der Staatlichen Ilia-Universität in Tbilissi, erstmals die Entstehung und die Strukturen dieses Modells der „Clanherrschaft“. Die von außen nicht erkennbaren Mechanismen der Schattenherrschaft, die er dabei offenlegt, sind nicht auf das georgische Justizsystem beschränkt. Sie kommen auch in anderen Bereichen zur Anwendung und werden in den meisten postsowjetischen Ländern praktiziert.

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Einführung

Die Unabhängigkeit der Justiz ist in der georgischen Innenpolitik seit jeher ein zentrales Problem. In den letzten Jahren hat sie auch außenpolitisch an Relevanz gewonnen. Am 17. Juni 2022 übermittelte  die EU-Kommission der georgischen Regierung zwölf Empfehlungen zur Erlangung des EU-Kandidatenstatus . Eine davon betraf auch das Justizsystem.

Gegenwärtig wird der georgische Justizapparat durch eine einflussreiche Gruppe von Richtern kontrolliert. Diese Gruppe, der sogenannte Clan, unterhält ein stillschweigendes Abkommen mit der politischen Führung: Verfahren, an deren Ausgang die georgische Regierung interessiert ist, werden im Sinne der Regierungspartei Georgischer Traum entschieden. Im Gegenzug verzichtet diese weitgehend auf eine direkte Kontrolle des Justizapparats und Einmischung in die verhandelten Fälle. So wird der Anschein erzeugt, das Justizsystem sei autonom. Tatsächlich sind die einzelnen Richterinnen und Richter jedoch alles andere als unabhängig.

Der Georgische Traum kam 2012 an die Macht und stellt bis heute die Regierung in Georgien. Er übernahm die Kontrolle des Justizsystems von der vorherigen Regierungspartei Vereinte Nationale Bewegung und sorgte dafür, dass sich dort die Clanherrschaft dank eines stillschweigenden Arrangements mit der Regierung etablieren konnte. Dieses Kontrollmodell unterscheidet sich grundlegend von dem der Vorgängerregierung: War der Justizapparat damals der herrschenden Gruppierung direkt unterstellt, so genießt der „Clan“ heute Autonomie. Diese nutzt er allerdings nicht im Interesse der Gesellschaft, sondern für das eigene Wohlergehen und zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse. Als Gegenleistung sorgt er dafür, dass Prozesse bei Bedarf im Interesse der Regierungspartei entschieden werden.

Im Folgenden wird dargelegt, wie das Modell der Clanherrschaft über das georgische Justizsystem entstanden ist, welche Entwicklung es genommen hat und wie die Situation heute ist.

1. Hintergrund der Reform

In der ersten Hälfte des Jahres 2012, als noch die Vereinte Nationale Bewegung an der Regierung war, veröffentlichte das „Bündnis für eine unabhängige und transparente Justiz“, ein Zusammenschluss von über dreißig NGOs, Unternehmen und Medienhäusern, eine ausführliche Studie, in der der katastrophale Zustand des georgischen Justizsystems eingehend analysiert wurde. Es wurde damals von den regierenden Kräften kontrolliert, vor allem von Justizminister Surab Adeischwili. Als Hauptprobleme wurden demnach die „ungenügende Einbeziehung der Richterschaft“ und die „Konzentration der Macht bei einer Behörde“ genannt. Daran schloss sich die Forderung an, innere Demokratie herzustellen und richterliche Unabhängigkeit zu gewährleisten, damit die Justiz frei von politischer Beeinflussung agieren könne.

Georgien ist ein Einheitsstaat. Nach der damaligen Rechtslage konnten der gewählte Präsident und die Mehrheit des Einkammerparlaments die höchsten Ebenen des Justizapparats, auf denen über die Bestellung und Amtsentbindung von Richtern entschieden wurde, direkt und ungehindert kontrollieren. Das lag vor allem an dem Mehrheitsprinzip der Machtverteilung, das der Opposition jede Einflussmöglichkeit nahm.

Vor diesem Hintergrund wies der Georgische Traum – damals noch in der Opposition – in seinem Wahlprogramm darauf hin, dass die Regierungspartei das Justizsystem kontrollierte, das zum „verlängerten Arm der Staatsanwaltschaft“ geworden sei. Nach dem Machtwechsel nahm die neue Regierung unter Federführung von Justizministerin Tea Tsulukiani umgehend eine Justizreform in Angriff.

2. Die Niederlage des Georgischen Traums und der Weg zum Arrangement

Das georgische Gerichtssystem kennt drei Instanzen – Stadtgerichte, Berufungsgerichte und Kassationsgerichte – und beschäftigt über dreihundert Richterinnen und Richter. Nach der georgischen Verfassung untersteht es dem Hohen Justizrat. Die Mehrheit der fünfzehn Mitglieder dieses Rats wird von der Richterschaft gewählt. Von den nichtrichterlichen Mitgliedern ernennt eines der Präsident bzw. die Präsidentin, fünf weitere wählt das Parlament (mit Drei-Fünftel-Mehrheit). Der oder die Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs gehört dem Gremium von Amts wegen an. Der Hohe Justizrat bestellt und entbindet die Richterinnen und Richter der beiden unteren Instanzen. Die Mitglieder des Obersten Gerichtshofs werden vom Parlament auf Vorschlag des Präsidenten und seit 2018 auf Vorschlag des Hohen Justizrats ernannt.

Die Umsetzung der Reform begann 2013. Am 1. Mai verabschiedete das Parlament das erste Reformpaket. Die Änderungen stützten sich zum großen Teil auf die Empfehlungen des „Bündnisses für eine unabhängige und transparente Justiz“. Das konnte jedoch nicht verhindern, dass die Regierung wegen versuchter Einflussnahme auf das Justizsystem kritisiert wurde. Die Vorwürfe bezogen sich vor allem auf die vorzeitige Amtsentbindung von Richtern und die Ernennung der Mitglieder des Hohen Justizrats. In beiden Fällen lagen die entscheidenden Stimmen bei der Richterschaft und der parlamentarischen Mehrheit. Die Parlamentsminderheit hatte hingegen keine Möglichkeit der Einwirkung. Am Mehrheitsprinzip hatte sich nichts geändert.

Die Parteiführung des Georgischen Traums schuf keine institutionellen Garantien dafür, dass der Hohe Justizrat mit unvoreingenommenen und daher zur Konsensfindung befähigten Mitgliedern besetzt wird. Sie errichtete kein von äußerer Einflussnahme freies und gegen innere Beeinflussung resistentes System. Sondern sie zielte von Beginn an darauf ab, „zuverlässige“ Kräfte zu finden und beschädigte so den Ruf der Reform. Vermutlich wollte die neue Regierung auf diese Weise das System von Anhängern der bisherigen Führung säubern und sie durch loyale Leute ersetzen.

Trotzdem gelang es der Parlamentsmehrheit nicht, das Justizsystem unter ihre Kontrolle zu bringen. Einige Wochen nach Verabschiedung des Reformpakets fand die Richterkonferenz statt, auf der die neuen Mitglieder des Hohen Justizrats gewählt wurden. Dabei gewannen oppositionell eingestellte Richter. Um ihr Ziel zu erreichen, musste die Regierung also weitere Maßnahmen ergreifen. Sie reduzierte den Einfluss der Mehrheit im Hohen Justizrat, begrenzte die Macht des Gremiums und zögerte die unbefristete Ernennung der oppositionellen Richter hinaus.

Ende 2013 wurde die Verfassung dahingehend geändert, dass Richter nicht mehr wie bisher für zehn Jahre ernannt wurden, sondern auf Lebenszeit. Zuvor mussten sie jedoch eine dreijährige Probezeit absolvieren. Dieses Schlupfloch machte sich der Georgische Traum zunutze. Dem Hohen Justizrat wurde die Befugnis entzogen, Richter sofort auf Lebenszeit zu ernennen.

Dies war die Hauptstoßrichtung des zweiten Reformpakets, das Kritik von Richtern sowie von Beobachtern im Inland und Ausland auf sich zog. Zugleich kam es im Hohen Justizrat zu dramatischen Konfrontationen zwischen den gewählten Mitgliedern aus der Richterschaft und den von der neuen Regierung ernannten nichtrichterlichen Mitgliedern.

Für die dritte Stufe der Justizreform setzte die Regierung auf eine von Grund auf neue Strategie. Das Reformpaket wurde im Frühjahr 2015 im Justizministerium erarbeitet. Drei Aspekte verdienen dabei besondere Aufmerksamkeit: (1) der Vorsitzende Richter eines Gerichts sollte von den Richtern selbst gewählt werden; (2) für die Wahl der nichtrichterlichen Mitglieder des Hohen Justizrats genügte nun die einfache absolute Mehrheit; (3) die Anzahl der Mitglieder des Obersten Gerichtshofs wurde auf 28 erhöht. Die erste dieser Neuerungen sollte die Gegner des Georgischen Traums in der Verwaltungshierarchie schwächen. Die zweite stellte sicher, dass die politische Mehrheit allein darüber entscheiden kann, wer durch das Parlament in den Hohen Justizrat gewählt wird. Die dritte Maßnahme schließlich erlaubte es, die Machtverhältnisse im Obersten Gerichtshof zu verschieben. Das „Bündnis für eine unabhängige und transparente Justiz“ bewertete nur die erste dieser drei Änderungen als positiv.

Die erste parlamentarische Lesung des Gesetzentwurfs fand im September und Oktober 2015 statt. Sie wurde nach kurzer Zeit unterbrochen und erst einige Monate später fortgesetzt. Es darf als sicher gelten, dass in diesem Zeitraum das Arrangement zwischen der Regierung und der Gruppe einflussreicher Richter getroffen wurde. Bezeichnenderweise wurde gleichzeitig auch das Reformpaket grundlegend überarbeitet, sodass es die betreffenden Richter nun zusätzlich stärkte. Anfang 2017 wurde der dritte Teil der Reformen schließlich verabschiedet.

Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass die Auseinandersetzung zwischen der Regierung und dem „Clan“ beigelegt worden war. Es gab nun ein Arrangement, demzufolge die politische Führung bei Bedarf auf das Justizsystem einwirken konnte. Im Gegenzug garantierte sie der einflussreichen Richtergruppe Unantastbarkeit und ließ sie intern nach Belieben schalten und walten.

Diente das dritte Reformpaket vor allem dazu, die legislativen Hürden für diese Art der Clanherrschaft aus dem Weg zu räumen, so sollten die darauffolgenden Maßnahmen – vom vierten Reformpaket (2017–2019) bis zur gesetzlichen Verankerung des Ernennungsverfahrens für die Richter am Obersten Gerichtshof – den Anschein von Fortschritt erzeugen. Treibende Kraft war nun nicht mehr das Justizministerium, sondern das Parlament. Es kam der Forderung nach Verrechtlichung (der Ersatz politischer Vorgänge durch juristische Verfahren und die Entscheidung politischer Probleme mit technokratischen Mitteln) nach, wobei die Logik des Mehrheitsprinzips bestehen blieb.

Zeitgleich wurde auch die Verfassungsreform betrieben und Ende 2017 vom Parlament verabschiedet. Die Verbesserungen – wie die Verpflichtung, die nichtrichterlichen Mitglieder des Hohen Justizrats auf konsensueller Basis zu ernennen – waren jedoch zu gering, um einen Kurswechsel bei der Justizreform einzuleiten. Zumal das Verfassungssystem insgesamt weiterhin auf dem Mehrheitsprinzip basiert.

Ein entscheidender Bestandteil der Reform war die Ratifizierung des Besetzungsverfahrens für die Kassationsgerichte. Darauf folgte ein langer und komplizierter Prozess der Ernennung der Richter am Obersten Gerichtshof – erst im Hohen Justizrat, dann im Parlament, wo es einen heftigen Schlagabtausch gab: Zwischen Regierung und „Clan“ auf der einen und Opposition, Zivilgesellschaft sowie Beteiligten aus der internationalen Gemeinschaft auf der anderen Seite. Dies endete schon bald in einer Farce, weil „die neuen Regelungen den ‚Clan‘ nicht daran hinderten, dem Parlament ihm genehme Kandidaten zur Bestätigung vorzuschlagen“. Von den zwanzig Kandidaten, die der Hohe Justizrat vorschlug, wurden vierzehn durch das Parlament bestätigt.

Damit hatte sich der Kreis endgültig geschlossen. Konnte man bis dahin noch die Illusion hegen, der Georgische Traum werde die Kassationsgerichte nicht dem „Clan“ überlassen, so war nun ganz offensichtlich geworden, dass „Clan“ und Regierung die zu besetzenden Posten schlicht unter sich aufgeteilt hatten. Nach dem Versuch, Anhänger der bisherigen Führung aus dem System zu entfernen und durch eigene Gefolgsleute zu ersetzen, waren die Regierenden dazu übergegangen, die „Clanherrschaft“ im Justizsystem zu sichern und gleichzeitig den fälschlichen Anschein von Fortschritt zu erzeugen.

3. Wechsel des Reform-Paradigmas

Die Justizreform litt von Anfang an daran, dass sie den Interessen der politischen Führung untergeordnet wurde. Allerdings sollten mehrere Jahre vergehen, bis die politischen Beobachter dies erkannten. Das „Bündnis für eine unabhängige und transparente Justiz“ erstellte nach ihrer ersten Evaluierung einen weiteren umfassenden Bericht, in dem von Kritik am Mehrheitsprinzip nicht mehr die Rede ist.

Aus dem Russischen übersetzt von Anselm Bühling

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