28 November 2023Georgia

„Russische Soldaten kommen mit Herzenswärme und Liebe“

Georgiens „politische Rechtgläubigkeit“ und Russland

by Beka Mindiashvili, Gigi Ugulava
© Lia Ukleba


Die Georgische Orthodoxe Kirche bleibt seit vielen Jahren eine Institution, die das Vertrauen der Mehrheit der Bevölkerung genießt. Gleichzeitig kanalisiert sie aber auch verstärkt die antiwestlichen und antidemokratischen Stimmungen sowie die Homo- und Xenophobie in Georgien. Die orthodoxe Kirche war und bleibt weiterhin auch der wichtigste Vorposten des russischen Einflusses im Land. Beka Mindiaschwili [∗] und Gigi Ugulawa [∗∗] decken die gemeinsame ideologische Basis der Georgischen und der Russischen Orthodoxen Kirche auf und definieren diese als „politische Rechtgläubigkeit“. Anders als das traditionelle orthodoxe Christentum bietet die politische Rechtgläubigkeit – unter dem Deckmantel der Religion – Instrumente einer Massenindoktrinierung. Die Autoren betrachten eingehend die drei Grundpfeiler, auf die sich die politische Rechtgläubigkeit stützt: Glaubensbrüderlichkeit, apokalyptischer Messianismus und religiöser Nationalismus.

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„Die Kirche bezieht folgende Position: [...] wir ziehen Menschen – Russen, Osseten – den Kirchen und Bauten vor; wir bevorzugen eine süße und liebevolle Haltung ihnen gegenüber. [...] Wir sind ein christliches Volk und das, was der Zwist zerstört hat, baut Liebe wieder auf“, so sprach Erzpriester Andrej von der Georgisch Orthodoxen Kirche auf der Beerdigung von Tamas Ginturi. Ginturi war vom russischen Militär in der Nähe von Kirbal – einem Dorf in Südossetien an der Grenze zum von Russland besetzten Gebiet – erschossen worden, weil er die von russischen Besatzern geschlossene Kirche von Lomis geöffnet hatte.

Derart radikale Liebe den Besatzern gegenüber – bis hin zum Stilisieren eines mordenden russischen Soldaten zum Liebesobjekt – könnte einen beinahe zum Nachdenken über die Vorbilder der christlichen Vollkommenheit verleiten, wenn da nicht ein paar Details wären.

Seit den 1990er Jahren ist die Georgische Orthodoxe Kirche gprägt von einem deutlichen Einfluss des Moskauer Patriarchats, sodass sich ihre Rolle und Positionierung auf der nationalen und internationalen Ebene mit wenigen Worten umschreiben lassen: ein Instrument der Soft Power Russlands.

Ein Teil der kirchlichen Obrigkeit Georgiens predigt gar die prorussische Ausrichtung als Pflicht. Praktisch alle prorussischen Organisationen in Georgien stehen in enger Verbindung zur Georgischen Orthodoxen Kirche. In der jüngsten Vergangenheit positioniert sich auch die georgische Regierung als Verteidigerin der Interessen der Kirche. Die Tatsache, dass die weltlichen und kirchlichen Machthaber Georgiens immer deutlicher ihren Zusammenschluss demonstrieren, entbehrt nicht einer gewissen Logik: Je antiwestlicher und Russland-freundlicher die georgischen Politiker sich zeigen, desto größer wird auch ihre Nähe zum prorussischen Klerus.

Welche Faktoren bestimmen nun die pro-russischen Stimmungen in der orthodoxen Kirche Georgiens, ihre Einstellungen und Entscheidungen? Welche Funktionen kann diese Kirche als ein Instrument der „weichen Macht“ Russlands übernehmen?

Ursprünglich wurde in der Strategie des russischen Imperialismus der Kirche generell und dem Einfluss mithilfe der Religion eine besondere Rolle eingeräumt: Die Aufgabe der Kirche war, den Weg gen Westen zu verbauen und das imperiale Regime zu legitimieren. Die Georgische Orthodoxe Kirche wird bis heute zu diesen Zwecken missbraucht.

Die Wahrnehmung des russischen Einflusses in Georgien und die prorussische Haltung der Kirche werden im Wesentlichen von drei Faktoren bedingt: Zum einen ist da die historische Verbundenheit, die im gleichen Glauben – der Glaubensbrüderschaft – verwurzelt ist. Zum anderen ist es das Narrativ des apokalyptischen Messianismus: Dabei tritt Russland als der leitende eschatologische Partner auf, während Georgien eine einzigartige Rolle beim Jüngsten Gericht zugeteilt wird. Als dritter Faktor ist der kirchliche Pseudonationalismus zu benennen.

Die Glaubensbrüderschaft

Bereits seit dem 18. Jahrhundert implizierten die Vorstellungen von der Glaubensbrüderschaft in erster Linie die engen Beziehungen zu Russland, das sich wiederum als das Dritte Rom positionierte – das Imperium, das als Schutzpatron des orthodoxen Glaubens fungiert. Dabei setzte die Verbindung der „Glaubensbrüder“ zu Russland von vorne rein einen Bruch mit Europa voraus.

So verfügte Zarin Katharina die Große 1782 mit ihrer Allerhöchsten Weisung zum Abschluss des Vertrages zwischen Russland und Georgien: „Deren [der georgischen Zaren – Anm. der Autoren] jegliche Bekanntschaft mit dem Imperator von Rom und anderen christlichen Mächten zu unterbieten, so dass sie zur Bedingung haben, sich nicht in die Angelegenheiten unserer asiatischen Nachbarn einzumischen und keine Briefe an den Imperator (von Rom) zu schreiben haben.“ [1]

Allerdings wurden die Hoffnungen auf das Errichten vom Dritten Rom – im Zuge der Vorbereitung der Annexion der Königreiche Kartlien-Kachetien und Emeretien durch Russland – zum Trojanischen Pferd: Die Umsetzung der Politik des „einheitlichen Glaubens“ bedeutete für Georgien die Annexion durch das Zarenreich, die illegitime Abschaffung der georgischen Königreiche und Fürstentümer sowie die Auflösung der Autokephalie der georgischen Kirche. Hundert Jahre später hatte der georgische Klerus eine deutlich ausgeprägte antirussische Haltung: Georgische Priester beteiligten sich aktiv an der nationalen Befreiungsbewegung und setzten sich für die Wiederherstellung der Autokephalie ein. Doch nach der Erklärung der Unabhängigkeit der georgischen Kirche im Jahr 1917 wurde die Beziehungen zur Georgischen Orthodoxen Kirche von der Russischen Orthodoxen Kirche unterbrochen: Die Autokephalie wurde von Moskau nicht anerkannt. Erst in der Sowjetzeit, 1943 – im Zuge einer veränderten persönlichen Einstellung Stalins zur Religion insgesamt, darunter auch zur Orthodoxen Kirche – hat das Moskauer Patriarchat die Unabhängigkeit der Georgischen Orthodoxen Kirche schließlich anerkannt. Allerdings eskalierte die Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen den beiden orthodoxen Kirchen in einer sogenannten stalinistischen Orthodoxie: Eine politische Theologie – synchronisiert mit dem von Stalin geprägten Kommunismus –, deren vordergründige Aufgabe die Legitimierung des Stalinismus im Ausland und die „christlich-orthodox“ begründete Entlarvung der USA, der Türkei, des Vatikans, der NATO, des Kapitalismus und Kosmopolitismus sowie der „jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung“ war. Diese Funktion behielt die Kirche schließlich bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Die stalinistische Transformation bedeutete eine liberalisierte Politik den orthodoxen Landeskirchen gegenüber (einschließlich der Wiedereröffnung von Kirchen und Priesterseminaren sowie Herausgabe der Kirchenliteratur unter Aufsicht der Nachrichtendienste), doch gleichzeitig zersetzte sie die kirchlichen Strukturen von innen, nachdem diese zuvor vom sowjetischen Totalitarismus von außen zerstört worden waren.

Glaubt man Konstantin Chartschew, Vorsitzender des Religionsrates im Ministerrat der UdSSR, „hat kein einziger Kandidat für einen Bischofsposten oder ein anderes höheres Kirchenamt bis hin zum Mitglied des Heiligen Synod seine Ernennung ohne Bewilligung durch das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und des KGB durchbekommen“. [2]

Nach dem Zerfall der Sowjetunion veränderte sich der Umgang mit der Kirche kaum. In den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetrepubliken mit orthodoxer Tradition wurden keine Lustrationen vorgenommen: Die sogenannte rote Priesterschaft blieb in den hohen Kirchenämtern, wo ihre Einflussmöglichkeiten sogar noch größer wurden. Direkt nach dem Zusammenbruch der UdSSR waren es gerade die Kirchenvertreter, die – anders als die damaligen „demokratischen“ Regierungen und Politiker – die sowjetische Tradition weiter pflegten. Mit noch mehr Elan kultivierten sie die antiwestlichen Feindesbilder und mobilisierten gegen den Westen. Ende der 1990er Jahre wurde in Russland der Kommunismus als die Gesellschaft zementierende Ideologie endgültig von der Doktrin der Russischen Welt abgelöst, die auf dem Konzept der Heiligen Rus bzw. des Dritten Roms fußte und mit der der Einfluss Russlands in bestimmten Regionen begründet wurde.

Apokalyptischer Messianismus

In der Geogrischen Orthodoxen Kirche ist der Glaube weit verbreitet, dass die Endzeit bereits eingebrochen ist. Viele Geistliche und „Propheten“ aller Art sind damit beschäftigt, die Anzeichen der Endzeit zu deuten und immer neue Antichristen zu entdecken. Es gibt mehrere Szenarien für den Weltuntergang, doch sie alle übermitteln eine ähnliche Vorstellung von der Apostasie und dem Antichristen. Als Anzeichen der Apostasie – des kollektiven Abfallens vom Glauben – werden beispielsweise die Globalisierung und Säkularisierung, das Internet, der technische Fortschritt, Pandemien und Kriege, die totale Überwachung und der Sittenverfall gedeutet.

Der Großteil der Obrigkeit in der Georgischen Orthodoxen Kirche sieht die Kirche und den Staat als eine von Feinden umlagerte Burg. Einer von den „orthodox“ prorussischen Politikern hat es einst so formuliert: Eine Verschwörung gegen Georgien würde von den „Erbauer des Throns des Antichristen“ angezettelt.

Doch wer genau soll das sein? Gemeint sind der globale Westen, westliche und östliche „Sekten“, der Liberalismus und Kapitalismus, verschiedene Minderheiten und Freimaurer, die geheime Weltregierung, NGOs und Medien, Coca-Cola und McDonald´s sowie die Juden samt Präsidenten Selenskyi, den manche georgische Priester unmittelbar nach Kriegsbeginn zum Antichristen erklärt hatten. Gegen diese Erzfeinde hetzt die Georgische Orthodoxe Kirche gemeinsam mit prorussischen Organisationen: Aggressive Kampagnen verlangen vom Staat, der Lage Herr zu werden und die feindlichen Kräfte mit Verboten und Repressionen zu vernichten. „Ihr seid zur Gewaltanwendung im Namen des Vaterlandes und für die heilige Sache verpflichtet“, so der Aufruf eines Priesters der Georgischen Orthodoxen Kirche am 5. Juli 2021 bei einer Kundgebung von Homophoben. Die traurige Bilanz dieser Aktion: fünfzig verletzte Journalisten. Und so wird von der Georgischen Orthodoxen Kirche lediglich Russland nicht als feindlich eingestuft. Bestenfalls wird der Unterschied zwischen Russland und dem Westen so definiert: Russland besetzt unser Land nur physisch, doch der Westen ist eine geistige Besatzungsmacht, was viel schlimmer ist.

© Netgazeti

Der russische Neoimperialismus – in seiner eurasischen Fassung – wurde von Alexander Dugin geprägt. Dugins geopolitischer Mystizismus erfreut sich großer Beliebtheit gleichermaßen unter den Geistlichen und in den prorussischen Organisationen in Georgien. Dieses Konzept ist apokalyptisch und betrachtet die Welt als eine Schaubühne des „Endzeitkrieges“. Die apokalyptischen Visionen in Georgien und Russland eint die Vorstellung, dass Russland dabei eine besondere Mission zuteilwird: dem Antichristen entgegenzutreten. In die Sprache der Geopolitik übersetzt bedeutet das „dem Westen Paroli zu bieten“. Das predigte auch Patriarch Kyrill: „Um es mit den Worten der Heiligen Schrift zu sagen: Russland wird zur Gegenkraft, die die totale Herrschaft des Bösen verhindert: das Erscheinen des Antichristen.“ Wenn dem so ist und Russland das Erscheinen des Antichristen in der Welt verhindert, soll Georgien – unter Russlands Fittichen vor der totalen Vernichtung durch den Westen gerettet – zur letzten Zuflucht des wahren orthodoxen Glaubens werden (Metropolit Ioann Gamrekeli, Georgiens Weg).

Dabei wird Russlands Feldzug gegen die Ukraine von der Georgischen wie der Russischen Orthodoxen Kirche als einer der wichtigsten Schauplätze des „Endzeitkrieges“ wahrgenommen.

Nach einem langen Kampf um ihre Unabhängigkeit wurde die Ukrainische Orthodoxe Kirche 2019 vom obersten Gremium der Weltorthodoxie als eine autokephale Landeskirche anerkannt. Ein harter Schlag für das Moskauer Patriarchat, denn die Ukraine spielte eine Schlüsselrolle in der neoimperialistischen Doktrin der Russischen Welt. Eigentlich sollte die Georgische Orthodoxe Kirche als eine der ersten die Autonomie der Ukrainischen Orthodoxen Kirche anerkennen. Doch zuletzt hieß es dazu im Jahr 2019 aus Tbilissi: „Wir lesen den Tomos“. Doch der Tomos [eine Art kirchliche Bulle, die die Autokephalie regelt – Anm. d. Red.] ist ein einseitiges Dokument, für dessen Lektüre man nicht allzu lange Zeit braucht. Vielmehr steht die Georgische Orthodoxe Kirche in dieser Frage unter starkem russischen Einfluss. In einer ähnlichen Situation hat die Georgische Orthodoxe Kirche – noch zur Sowjetzeit – die Eigenständigkeit der Orthodoxen Kirche in den USA anerkannt. Sie folgte damit der Entscheidung des Moskauer Patriarchats, während das Weltpatriarchat (die oberste Instanz der Weltorthodoxie in diesen Angelegenheiten) die Autonomie der Orthodoxen Kirche der USA bis heute nicht akzeptiert hat.

Nach dem Russischen Einmarsch in die Ukraine 2022 fand das Patriarchat in Tbilissi zu einer gewissen Neutralität: Die Georgische Orthodoxe Kirche rief mehrfach dazu auf, den Krieg zu beenden und mahnte den Frieden an. Doch im März 2023, als das Kiewer Höhlenkloster an die Ukrainische Orthodoxe Kirche übergeben wurde, bat der Katholikos-Patriarch Ilia II. das Ehrenoberhaupt der Weltorthodoxie, sich um die Rückgabe des Klosters an die Russische Orthodoxe Kirche zu bemühen. Ein weiteres interessantes Detail: Ilia II. gratulierte als einziges Oberhaupt der unabhängigen orthodoxen Landeskirchen dem Moskauer Patriarchen Kyrill – der die russische Invasion und den Krieg in der Ukraine befürwortet – zum Geburtstag und wünschte ihm dabei die Erfüllung all seiner Träume.

Allerdings gibt es aktuell immer mehr Geistliche in Georgien, die Russland die Aggression gegen die Ukraine vorwerfen und den Westen nicht mehr als Feind, sondern als Alliierten betrachten. Doch das konnte bis jetzt die allgemeine Stimmung in der Georgischen Orthodoxen Kirche nicht kippen.

Die Georgische Orthodoxe Kirche sieht den Antichristen als einen religiösen und politischen Führer der globalisierten Welt und als falschen Friedensstifter. Dementsprechend vermutet auch ihr apokalyptisches Narrativ den Antichristen in einer engen Verbindung mit dem Westen. Nach der russischen Invasion in der Ukraine avancierte Präsident Selenskyj in den Augen der georgischen Apokalyptiker zum wichtigsten Kandidaten für diese Rolle.

© RFE/RL
Politische Rechtgläubigkeit und der kirchliche Nationalismus

Der dritte – und vielleicht der wichtigste – Grundpfeiler des prorussischen Einflusses ist das kirchliche Modell des Nationalismus.

Auch wenn die Georgische Orthodoxe Kirche im russisch-postsowjetischen Neoimperialismus verwurzelt ist, bilden – paradoxerweise – die georgische Sprache und die nationalen Symbole einen Schwerpunkt im georgischen Konstrukt des kirchlichen Nationalismus. In der Rhetorik der georgischen Geistlichen erhalten nationale Begriffe wie Nation, Vaterland, Patriotismus, Einigkeit, Sprache, nationale Identität, „das Georgische“ und dessen Schutz einen besonderen, sakralen Sinn. Mythisch-poetische Formeln wie „Erleuchtung von Iwerien“, „Wiedererstehung von Georgien“, oder „das Himmlische Iwerien“ wurden zu Perlen im Sprachgut des kirchlichen Kollektivismus. Und doch orientierten sich die georgischen Geistlichen bis auf wenige Ausnahmen nicht wie vor hundert Jahren am traditionellen antirussischen Nationalismus aus der Zeit des Kampfes der georgischen Kirche um ihre Autokephalie, sondern schufen eine gegenteilige ideologische Simulation: den falschen Doppelgänger des Nationalismus. Sowohl die nationale Befreiungsbewegung der 1980er Jahre, als auch der spätere bürgerliche Nationalismus in Georgien standen in einer liberalen demokratischen Tradition – wie einst ihre Vorreiter Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts. Die politische Rechtgläubigkeit dagegen speiste sich aus der sowjetischen Erfahrung und der Theologie des Dritten Roms. Daher wünscht sich der bürgerliche Nationalismus eine Abkopplung von Russland und eine klare westliche Orientierung, während seine kirchliche Alternative die Abscheu vor dem Westen und Offenheit gegenüber dem Nachbarn mit dem gleichen orthodoxen Glauben predigt.

Da die hier skizzierten Formen der georgischen und russischen Orthodoxie zur Begründung von politischen bzw. geopolitischen Zielen benutzt werden, können diese auch als politische Rechtgläubigkeit bezeichnet werden. Dabei wird die Religion als Grundlage für die nationale, zivilisatorische, politische und kulturelle Identität gesehen. Das hat zur Folge, dass die eigentlich religiösen, theologischen und ethischen Inhalte ausgehöhlt und durch Ideologie ersetzt werden. Diese nutzen dann der Staat oder politische Organisationen als Instrument für ihre eigenen Zwecke. So wurde eine politische Waffe geschmiedet, die nichts mehr mit Gott und der ewigen Rettung der Menschen gemein hat, sondern der Mobilmachung der Massen, der Erschaffung bzw. Lösung von Krisen und Konflikte dient. Die politische Rechtgläubigkeit bedient sich der Formen, der Sprache und der Symbole einer Religion, füllt diese jedoch mit anderen, fremden Inhalten. Das beste Beispiel der politischen Rechtgläubigkeit liefert eine der jüngsten Predigten des russischen Patriarchen Kyrill, in der es unter anderem heißt, dass Russland nur dank der Atomwaffen frei geblieben sei, die „unter dem Segen des Heiligen Seraphim von Sarow“ erschaffen worden seien. Letztendlich läuft es also darauf hinaus, dass das Schicksal des russischen Volkes, des Dritten Roms, der Heiligen Rus und der Russischen Welt nicht von Gott, sondern von Atomwaffen bestimmt wird.

Die Ausrichtung der politischen Rechtgläubigkeit an der Vergangenheit bzw. an der Eschatologie und deren religiöse Eigenart stehen in Russland und Georgien ausschließlich im Dienst des russischen Imperialismus sowie der Massenvernichtung in der Ukraine.

Es ist auch kein Zufall, dass Dugins Gesinnungsgenosse Lewan Wasadse, als einer der Führer des kirchlichen Nationalismus in Georgien zunächst in einer traditionellen georgischen Tracht antrat und erst danach mit Schlagstöcken und Gürteln in der Öffentlichkeit auftauchte. Sein martialisches Auftreten sollte wohl andeuten, dass eine Möglichkeit besteht, all die Freidenker und Dissidenten auch mit physischer Gewalt zu bekämpfen. Offensichtlich besteht das finale Ziel der politischen Rechtgläubigkeit in Georgien darin, im Museum des russischen Imperialismus eine Strohpuppe aufzustellen, gekleidet in georgische Tracht.

All das führte schließlich – ob bewusst oder unbewusst – dazu, dass sich ein georgischer Priester, nur wenige Tage bevor Tamas Ginturi vom russischen Militär erschossen wurde, ausgerechnet in der Kirche von Lomis zur Aussage hinreißen ließ: „Russische Soldaten kommen mit Herzenswäre und Liebe hierher.“

Aus dem Russischen übersetzt von Elena Cueto Chavarría


[∗] Beka Mindiaschwili ist Theologe, assoziierter Professor der Staatlichen Ilia-Universität in Tbilissi, Leiter des Toleranzzentrums im Ombudsmann-Office Georgiens, Gründer des Tolerance and Diversity Institute.

[∗∗] Gigi Ugulawa ist Politiker; er studierte Theologie und Philosophie in Tbilissi und Saarbrücken, ist ehemaliger Journalist und ehemaliger Oberbürgermeister von Tbilissi.


[1] Quelle: A. Zagareli, Gramoty i drugije istoritscheskije dokumenty, otnossjaschtschijessja do Grusii. T. II. Wyp. I. Grusinskije texty. S 1768 po 1801 god. Pod redakzijei A.A. Zagareli. SPb., 1898; S. 30.

[2] Quelle: Albaz, J. E./Fizpatrik K. Gossudarstwo wnutri gossudarstwa: KGB i jewo wlast w Rossii – proschloje, nastojaschtscheje i buduschtscheje. 1994.

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