18 July 2023Belarus

Wie ein zukünftiges Lehrbuch über die Geschichte von Belarus aussehen wird

Überlegungen von Yauhen Krasulin, Historiker sowie Augenzeuge und Beteiligter der gegenwärtigen Ereignisse

by Yauhen Krasulin
© Anna Krasulina


Seit drei Jahren geht das totalitäre Regime in Belarus mit Repressionen gegen die Opposition vor. Sowjetisch inspirierte Propaganda ist allgegenwärtig. Unser Land wird auf der ganzen Welt als aktiver Teil der derzeitigen Aggression in der Ukraine gesehen. Die Belarussinnen und Belarussen verlassen ihr Zuhause und fliehen ins Ausland. Jedoch gibt es Politikerinnen und Politiker, Expertinnen und Experten, die trotz allem davon überzeugt sind, dass die belarussische Revolution von 2020 keine Niederlage erlitten hat. Und nicht nur das: In der Revolution sehen sie nach wie vor den Anfang eines zukünftigen Sieges. Diese Ansicht teilt auch der promovierte Historiker Yauhen Krasulin.

OWM hat ihn darum gebeten, die Struktur eines zukünftigen Lehrbuchs über die belarussische Geschichte zu entwerfen, – so wie es nach einem Sieg der Demokratie in Belarus geschrieben werden könnte.

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Etwas Methodologie

Einerseits ist die Idee, ein Lehrbuch aus der Zukunftsperspektive heraus zu schreiben, gar nicht so abwegig. Eine genaue Kenntnis der Weltgeschichte in verschiedenen Epochen und in verschiedenen Regionen berechtigt zu der Annahme, dass Geschichte aus einer bestimmten Anzahl von Existenzmodellen menschlicher Gemeinschaften besteht, sowohl auf einer Mikro- als auch auf einer Makroebene. Diese Modelle wiederholen sich in regelmäßigen Abständen. Dabei unterscheiden sie sich im Detail, weisen aber jeweils ähnliche Prinzipien auf, sodass man (wenn man denn genügend Wissen hat) vorhersagen kann, in welche Richtung sich eine Gesellschaft letztendlich entwickelt, wenn sie dem einen oder dem anderen Modell entspricht.

Doch nicht ohne Grund hatte Nietzsche in „Also sprach Zarathustra“ allein dem Übermenschen die Fähigkeit zugesprochen, den Sinn der Wiederkehr von Ereignissen zu verstehen, der gewöhnliche Mensch vermag dies nicht. Andernfalls hätten wir, gewöhnliche Menschen, schon längst die Gesetze der Geschichte entschlüsselt und würden den Fallen ausweichen, die sie auf unserem Wege stellt. Nein, natürlich ist nicht die Geschichte schuld, sondern menschliche Motive, Ängste, Vorurteile, Neid ... Doch Fallen bleiben Fallen, ebenso wie die Weigerung der Menschen, diese als solche zu erkennen.

Deswegen können wir zurzeit über die Zukunft nur auf einer Art fundamentalen, grundlegenden Ebene sprechen. Ich denke, niemand zweifelt daran, dass Belarus die Merkmale einer Diktatur aufweist. Und wie die historische Erfahrung zeigt, gibt es keine ewigen Diktaturen. Daher ist eins sicher: Eines Tages wird die Demokratie in unserem Land siegen. Doch ist es offensichtlich, dass ein Geschichtslehrbuch, das nach dem Prinzip „zuerst herrschte eine Diktatur (Punkt A), und danach kam das Land zu einer Demokratie (Punkt B)“ verfasst ist, weder informativ noch nützlich oder interessant sein wird.

Die Logik der historischen Bewegung von Punkt A zu Punkt B muss einen dritten Bestandteil beinhalten: Punkt C, der (so paradox das auch klingen mag) sowohl A als auch B oder weder A noch B, oder beides gleichzeitig sein kann. Ereignisse können etwas völlig anderes bedeuten als das, was wir sehen oder was andere uns von ihnen berichten. Dabei kann ein und dasselbe Ereignis äußerst verschiedene Bedeutungen haben oder eben auch gar keine. Und zwar gleichzeitig.

Die Reise von Punkt A zu Punkt B in der Geschichte ist keine gerade Linie. Und auch kein Kreis. Es ist eine unvorstellbar verschlungene Route, die mehrmals die gleichen Orte passieren, sich selbst kreuzen, die Richtung ändern, an den falschen Ort gelangen und dort schließlich festhängen kann. Wenn man dann das Ziel erreicht, kann man feststellen, dass man sich nicht an Punkt B, sondern an Punkt A befindet – es stellt sich heraus, dass man die ganze Zeit um den Ausgangspunkt gekreist sind. Vielleicht kann Homers „Odyssee“ als die meisterhafteste Beschreibung des Laufs der Geschichte angesehen werden. Die Geschichte von Belarus ähnelt in vielerlei Hinsicht dieser Beschreibung. Und dies gilt nicht nur für die Vergangenheit.

Paragraph 1. Traumata, Entscheidungen und Wahlen der 1990er

An dieser Stelle erwartet uns im zukünftigen Geschichtslehrbuch der erste „Punkt C“. Denn einerseits waren die 1990er eine Epoche der Demokratie, in der die „administrativen Ressourcen“ der Staatsmacht Wahlen noch nicht in dem Maße beeinflussen konnten, wie es später der Fall war. Andererseits lag das Problem bereits in den Wahlen selbst. Die Belarussen standen unter Einfluss der Traumata, die ihnen durch die jahrzehntelange Vorherrschaft des „demokratischen Zentralismus“ zugefügt worden waren sowie durch die jahrhundertealte Idee von der Überlegenheit der „russischen Kultur“, der „russischen Sprache“, des „russischen Volkes“ und dem Gegenstück des „armen, unglücklichen weißrussischen Bauers“.

Ersteres löste bei den Menschen nicht das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, sondern nach einer starken, zentralen Macht aus. Einer Macht, die – wie in den sowjetischen Zeiten – ihnen „alles geben wird“. Letzteres hat die Entstehung einer grundlegenden belarussischen Identität verhindert; die Belarussen sind „steckengeblieben“, befremdet vom Geschrei des Nazismus, Faschismus und der Idiotie all der Völker, die sich vom „Großen Russland“ mit seiner großen Kultur, seiner Sprache und seiner Gas-Pipeline loslösen wollten, befremdet vom Gerede von Brüderlichkeit, von Gleichberechtigung der Völker und von Völkerfreundschaft: „Es macht doch keinen Unterschied, in welcher Sprache man spricht – Hauptsache, man spricht auf Russisch.“

Das Ergebnis dieses doppelten Traumas bedingte die Entscheidung, die das belarussische Volk bei den Wahlen im Jahr 1994 traf. Manche meinen, dass ein anderes Wahlergebnis alles geändert hätte. Alles wäre anders, hätte man damals den nationalistischen Posnjak statt den prorussischen Lukaschenko gewählt. Dem erlaube ich mir in meinem zukünftigen Geschichtslehrbuch zu widersprechen. Denn die Wege der Geschichte werden nicht nur von den Menschen gemacht, die auf diesen Wegen laufen. Es gibt auch andere Gravitationskräfte, die darauf einwirken und die ziemlich stark sein können.

Solch eine starke Gravitationskraft war bisher Russland (diese Kraft besteht auch heute noch, doch ist es angebracht, in unserem Lehrbuch das Tempus der Vergangenheit zu benutzen). Und die Absichten dieser Kraft waren (zumindest aus Sicht der zukünftigen Historiker) ziemlich offensichtlich: das russische Imperium wiederherzustellen.

Die Vorherrschaft der Parteifunktionäre wurde mit dem Zerfall der UdSSR auf Wunsch der neuen russischen Staatsmacht beendet. Und so wie die Oktoberrevolution von 1917 es den Völkern, die ein Teil des russischen Imperiums gewesen waren, ermöglichte, eigene Nationalstaaten zu bilden, so hat der Zerfall der Sowjetunion den gleichen Prozess in Gang gesetzt. Doch genauso wie die Bolschewiken anschließend wieder anfingen, „russische Erde zu sammeln“ [ein Begriff aus der russischen Geschichtsschreibung; die Vereinigung russischer Fürstentümer ab dem 14. Jahrhundert und die Ausdehnung des Imperiums. – Anm. d. Ü.] so tat es auch „das neue und demokratische“ Russland – nach den gleichen Schemata. Dort, wo nationalistische (hier positiv konnotiert) Regimes an die Macht kamen, kam es anschließend zu Militärputschen. So war es in Aserbaidschan, Georgien, Tadschikistan etc. Letztendlich kamen dort zuverlässige, bewährte Partner von Moskau an die Macht. Zweifelsohne hätte Belarus das gleiche Los erlitten, wenn die Mehrheit für Posnjak gestimmt hätte. Es wäre zu einem Militärputsch gekommen, der beispielsweise durch eine Empörung über die „Diskriminierung von Russischsprachigen“ ausgelöst worden wäre. Und alles hätte mehr oder weniger den uns schon bekannten Lauf der Dinge genommen.

Anschließend hätte sich das Szenario nach den uns geläufigen historischen Gesetzmäßigkeiten weiterentwickelt. Wenn ein Demagoge ohne jeglichen Sinn für Empathie oder Respekt gegenüber den Leuten an die Macht kommt, wenn er sich ausschließlich das Erlangen der Macht und den Machterhalt zum Ziel macht, kann man seine weiteren Handlungen aus alten Geschichtsbüchern regelrecht abschreiben. Zuerst wird das Parlament aufgelöst und dann ein Marionettenparlament eingerichtet, in dem nur „zuverlässige“ Leute eingesetzt werden. Dann wird die Verfassung zu seinen Gunsten umgeschrieben, indem den anderen Gewalten die Macht, die ihnen per Gesetz zusteht, entzogen wird. Das taten beispielsweise Porfirio Díaz in Mexiko und Yuan Shikai in der Republik China Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Das i-Tüpfelchen ist dann die verfassungsrechtlich gesicherte Möglichkeit, einen Nachfolger zu bestimmen. Aber wenn „es Zeiten gibt, in denen Gesetze zweitrangig sind“ [mit diesem Satz rief Lukaschenko im Herbst 2020 die Staatsanwaltschaften dazu auf, gegen Protestierende vorzugehen. – Anm. d. Ü.], kommt man auch ohne diese Möglichkeit aus.

Und das Volk? Blieb es stumm, wie immer? [„Das Volk bleibt stumm“ ist der letzte Satz des Dramas „Boris Godunow“ von Alexander Puschkin. – Anm. d. Ü.] Im zukünftigen Geschichtslehrbuch wird dem Volk zu Zeiten von Lukaschenkos Diktatur ein eigenes Kapitel gewidmet. Es wird mit Hilfe der neusten Erkenntnisse und Forschungsmethoden verfasst: Einsichten aus der Massenpsychologie, aus Studien über die sozialen Folgen einer Diktatur, aus Studien zu Verhaltensmodellen, etc. Zweifelsohne werden dort auch die nicht beachteten Aufrufe der Abgeordneten des Obersten Sowjets, sich gegen den Staatsstreich im Jahr 1996 auszusprechen, Platz finden. (Dass diese Aufrufe ignoriert wurden, kann man mit der damals noch wenig entwickelten politischen Kultur erklären.)

Besonderes Augenmerk wird jedoch auf die Ereignisse um die Bildung des sogenannten „Unionsstaates“ zwischen Russland und Lukaschenko gelegt werden. Ja, richtig, Lukaschenko, denn Belarus hatte sich damals gegen diesen „Staat“ erhoben. Ich erinnere mich an jene Tage im April 1996. Ich war weit weg von Belarus und beobachtete aus der Ferne, wie unsere Unabhängigkeit zynisch zerstört wurde – mit Schnapsgläsern, die zur Feier des Tages auf dem Boden zerschellten [nach der Unterzeichnung des ersten Vertrags für eine gemeinsame Staatenunion im Kreml am 2. April 1996. – Anm. d. Ü.] und einem Lukaschenko, der vor lauter Nähe zum Moskauer Thron ganz benommen war. Diese Realität war abstoßend. Man wollte wieder daraus erwachen.

Es waren die Menschen, die die Realität wieder attraktiver machten und mit Sinn erfüllten. Die Belarussinnen und Belarussen reagierten auf die „Integrationsinitiativen“ mit dem „Minsker Frühling“: Die Milizen liefen mit ihren Knüppeln und Schutzschildern vor wütenden Bürgerinnen und Bürgern davon. Die Hoffnung auf die Bildung eines „Unionsstaates“ haben sowohl die russischen „Sammler der Russischen Erde“ als auch die belarussischen Träumer von Russlands Thron auf später verschoben.

Die Autoren des zukünftigen Geschichtslehrbuchs werden die These, die Belarussinnen und Belarussen hätten das Regime „massiv unterstützt“ Ende der 1990er kritisch hinterfragen. Ich persönlich kannte niemanden, der sich damals für das Regime ausgesprochen hätte. Im besten Fall hörte man ein gleichgültiges: „Was geht mich das an?“, während Kritik allgegenwärtig war.

Paragraph 2. Das Regime und das Volk. Der Gesellschaftsvertrag oder die Stabilität der 2000er Jahre

In der Tat kritisierte man die Staatsmacht überall. Sogar in belarussischen Dörfern, die „die aus der Stadt“ für Lukaschenko-Hochburgen hielten. Einmal wurde ich in einem unbekannten Dorf von völlig unbekannten Leuten angesprochen: „Haben Sie gehört, was dieser Clown gestern im Fernsehen gesagt hat?“ Während der Wahlkampagnen von 2006 und 2010 habe ich bei Versammlungen wirklich nur wenige Leute gesehen, die ihre Unterstützung für Lukaschenko zum Ausdruck brachten. (Man wird übrigens, bevor man das Lehrbuch der Zukunft verfasst, die damals im Land durchgeführten soziologischen Umfragen auf die Stichhaltigkeit ihrer Methoden hin überprüfen sowie analysieren müssen, inwiefern sie ein gewünschtes Ergebnis bestätigen sollten).

Wie löste das Regime also das Problem seiner mangelnden Beliebtheit? Zuallererst natürlich, durch den guten alten Gesellschaftsvertrag: Du fütterst uns, also dulden wir dich. Dazu kam noch die politische Demobilisierung. Jedes autoritäre Regime (und Lukaschenkos Regime bis ins Jahr 2020 ist sicherlich als ein autoritäres einzuschätzen) strebt danach, die Bürgerinnen und Bürger aus dem politischen Leben auszuschließen, indem es selbiges für sich vereinnahmt. Geschäftsleben, Kultur, Soziales, Volkstanz, Ornithologie – bitte schön. Aber bleibt bloß weg von der Politik!

Politik, so erklärte man es den Leuten, sei ein schmutziges Geschäft, wie auch die Individuen, die sich damit beschäftigen. Schaut euch mal diese „Oppositionellen“ an, – die würden ja ihre eigene Mutter für westliche Fördermittel verkaufen! Schaut doch mal, sie schaffen es ja nicht einmal, sich zusammenzuschließen! Die Absurdität solcher Anschuldigungen war offensichtlich. Westliche Förderungen bekamen alle: Wissenschaftler, Sportler, Medien, Organisationen und sogar „Behörden der Rechtspflege“. Aber gerade für Politikerinnen und Politiker war so eine Art der Finanzierung vom Gesetz nicht vorgesehen.

Und was dieses Mantra angeht, mit dem man sich über die Politiker beschwerte: „Wann werden sie sich denn alle verbünden“: Nirgendwo und noch nie in der Geschichte sind Politiker eines Landes als monolithischer Block aufgetreten. Nicht mal in der UdSSR der Stalin-Zeit oder in Nordkorea. Zu diskutieren und sich nicht einig zu sein ist normal. Gerade das treibt die Entwicklung voran. So war die Wahlkampagne der Opposition im Jahr 2006 gerade deswegen effizienter, weil es zwei Kandidaten gab – Milinkewitsch und Kosulin. Jeder von ihnen hatte seinen eigenen Stil und Argumente, die von den Bürgerinnen und Bürgern positiv aufgenommen wurden. Das Gleiche ereignete sich 2010, als die Opposition neun Kandidaten aufstellte. Ihr wollt einen einzigen Kandidaten? Bitte schön: Dieser gemeinsame Oppositionskandidat wird derjenige, der in die zweite Runde kommt. Das wiederum wäre nur passiert, wenn es im Land wirkliche Wahlen gegeben hätte. Ohne die spielt aber auch die Einigung auf einen gemeinsamen Kandidaten keine große Rolle.

Dem Regime ist es ziemlich effizient gelungen, den Belarussinnen und Belarussen Misstrauen gegenüber den Oppositionsführern einzuflößen. Hier hat noch ein „möglicher Punkt C“ eine Rolle gespielt: Das Problem liegt darin, dass, obwohl die Belarussinnen und Belarussen eine Demokratie anstrebten, in dieser Demokratie die Führungsfigur weniger ein vom Volk gewählter Beamte sein sollte, sondern eine starke Persönlichkeit, die alle Probleme für sie lösen sollte. Das ist das Trauma aller Völker, die von einer Diktatur geprägt worden sind: Die Menschen können einfach nicht begreifen, dass sie in einer Demokratie selbst die Verantwortung für ihr Schicksal und das Schicksal ihres Landes tragen müssen, während es die Aufgabe der Regierung ist, dafür die nötigen Bedingungen zu schaffen. In diesem Spiel sehen sie sich als Kinder, die von den Erwachsenen – der Staatsmacht – gefüttert und angekleidet werden müssen und nicht so hart bestraft werden dürfen. Den Leuten fällt es schwer zu glauben, dass sie selbst diese Erwachsenen sind.

Und noch ein Punkt, der im Geschichtslehrbuch ebenfalls Erwähnung finden wird und der im Propaganda-Leitfaden jedes autoritären Regimes auftaucht: Die Staatsmacht hatte es geschafft, die Belarussinnen und Belarussen davon zu überzeugen, dass sie in der Minderheit seien. In den 2000er-Jahren hörte man Leute oft sagen: „Sie und ich sind zwar gegen das Regime. Doch alle anderen sind dafür.“

Dies ist in der Tat eine sehr einfache Methode, die Gesellschaft unter Kontrolle zu halten: Die Regimegegner davon zu überzeugen, dass sie mit ihrer Position allein sind, dass aber alle anderen die Staatsmacht unterstützen. Und dass man es lieber nicht riskieren sollte, den Kampf gegen eine Mehrheit aufzunehmen und Widerstand zu leisten.

© Yauhen Krasulin
Paragraph 3. 2020: Ein Sieg oder eine Niederlage?

Das einzige Problem ist: langfristig funktioniert diese Methode nicht. Das unbeliebte Regime hat durch seinen Kampf gegen die Opposition bei den Belarussinnen und Belarussen selbst den Wunsch nach Veränderung geweckt. Mehr noch: Es hat die Vorstellung einer neuen politischen Führerfigur vorweggenommen – die eines modernen, demokratischen, erfolgreichen Oppositionsführers. Und als eine solche Persönlichkeit erschien, haben die Belarussinnen und Belarussen sie erkannt: Viktor Babariko entsprach genau ihren Erwartungen.

Im Lehrbuch der Zukunft wird stehen: Man kann nicht sagen, die Belarussinnen und Belarussen seien 2020 „aufgewacht“. Sie hatten nicht geschlafen. Sie hatten nur darauf gewartet, dass ein Politiker erscheint, der das Potential hat, Lukaschenko zu Fall zu bringen. Als sie diesen Politiker in Babariko erkannten, lebten die Belarussinnen und Belarussen auf und strömten auf die Straßen. Der Wunsch nach Veränderung war so stark, dass die Nichtzulassung von Viktor Babariko zu den Präsidentschaftswahlen 2020 die Proteststimmung nicht geschwächt, sondern im Gegenteil gestärkt hat.

Wenn ich an Gespräche zurückdenke, die ich damals mit Bekannten führte, kann ich sagen, dass die Belarussinnen und Belarussen nicht sofort dazu bereit waren, ihre Sympathien für den Finanzmanager Babariko zugunsten der Hausfrau Tichanowskaja aufzugeben. Da spielte das Versprechen, das Tichanowskaja im Wahlkampf gemacht hat, eine große Rolle: „Ich kandidiere nicht um zu regieren – sondern um freie und faire Wahlen zu organisieren.“ Diese Botschaft kam bei allen positiv an und hat Tichanowskaja zum Symbol der neuen belarussischen Hoffnung gemacht. Ich denke, dass dieses Thema im zukünftigen Lehrbuch gewürdigt wird.

Bedeuteten die Ereignisse von 2020 einen Sieg der Belarussinnen und Belarussen? Diese Frage wird im zukünftigen Geschichtslehrbuch wohl kaum gestellt werden. Doch die heutigen Debatten um diese Frage werden darin sicherlich Raum finden.

Denn es findet in Belarus gerade ein Nervenkrieg statt, und derjenige, der länger durchhält, wird gewinnen. Gesteht einer der Gegner seine Niederlage zu, wird dies den Sieg für die andere Seite bedeuten. Und wenn das Regime die Belarussinnen und Belarussen dazu zwingt, zu glauben, dass sie 2020 eine Niederlage erlitten hätten, wird es gute Chancen haben, länger fortzubestehen. Daher wird die Staatsmacht jede Gelegenheit ergreifen, um dies zu tun.

Die verschlungene Route des historischen Prozesses mit all seinen verschiedenen Wendungen kann in der Tat den Eindruck erwecken, das Böse hätte gesiegt und alles wäre verloren. Eine Lehre kann man dabei aber aus dem Schicksal von Stefan Zweig ziehen, der sich gemeinsam mit seiner Frau im Februar 1942 das Leben nahm. Zu jener Zeit hatten die Nationalsozialisten bereits fast ganz Europa unter ihrer Kontrolle und die Lage an der Ostfront ließ keine Hoffnung auf einen Sieg der UdSSR gegen Hitlers Truppen zu. Japan hatte fast den ganzen Pazifik unter seine Kontrolle gebracht, japanische Flieger wurden über Australien geortet. Zweig hatte das als ein eindeutiges Zeichen interpretiert: Es war offensichtlich, dass dies den Sieg des Bösen und das Ende des Guten, der Freiheit und der europäischen Zivilisation bedeutete … In so einer Welt wollte Zweig nicht leben.

Doch weder Großbritannien noch die USA noch die UdSSR glaubten an eine Niederlage. Nicht einmal die Franzosen glaubten daran. Oder zumindest nicht alle. Und sie haben gesiegt. Sogar die Franzosen. Denn man hat nicht verloren, solange man seine Niederlage nicht anerkennt. Wie kann man von einer Niederlage sprechen, wenn der Kampf noch nicht beendet ist? Und das ist der Grund, weshalb man in keinem Lehrbuch eine Erwähnung von einer Niederlage Großbritanniens, der USA und der UdSSR im Jahr 1941 findet. Ebenso wenig wie 1942, 1943 oder 1944.

Zweigs Beispiel zeigt uns, dass es Menschen mit zu großen Erwartungen gibt, sie gehen davon aus, dass, wenn es jetzt keinen Sieg gibt, es niemals einen geben wird. Ja, im Moment ist der Gegner in der Offensive. Doch das heißt nicht, dass wir schon verloren haben.

2020 haben die Belarussinnen und Belarussen Lukaschenkos Regime besiegt – er hat die Aufforderung „Geh weg!“ ganz klar gehört. Sein Leben wird nie wieder so sorglos sein wie zuvor. Er weiß genau, dass die Belarussinnen und Belarussen das Blatt noch nicht gewendet haben, wie sehr man auch das Gegenteil behaupten mag.

Prüfungsaufgabe: Nicht zum Alten zurückkehren

Das Böse, dem sich die Belarussinnen und Belarussen widersetzten, hat sich als mächtiger erwiesen, als man es sich früher vorgestellt hatte. Es ist das gleiche Böse, das auf eine Wiederherstellung des Imperiums hofft und sich aktiv ein neues Land aneignen will. 2020, als das Regime ins Wanken geriet, hat dieses Böse erklärt, dass es nach Belarus seine Nationalgarde und sogar seine Armee entsenden wird, um den Sturz Lukaschenkos zu verhindern. Als belarussische Propagandisten vor der Macht des Volkes kalte Füße bekamen, schickte das Böse Lukaschenko Propaganda-Fallschirmjäger von „Russia Today“ zu Hilfe. Sicherlich hätte es, wenn nötig, auch Panzer geschickt. Nun sehen wir, was das Böse vorhatte. Und wir verstehen jetzt, dass das Handeln einer Nation, so motiviert sie auch sein mag, nicht ausreicht, um dagegen zu kämpfen. Die ganze demokratische Welt kämpft gegen dieses Böse, und jeder hat in diesem Kampf seine eigene Aufgabe. Beispielsweise die, nicht den Glauben an den Sieg zu verlieren.

Im Lehrbuch der Zukunft werden natürlich alle Methoden beschrieben sein, die das Böse benutzt. 2020 war es eine Zeit lang erschüttert von der Einheit, dem Zusammenhalt, der gegenseitigen Solidarität, dem Mut und dem Durchhaltevermögen der Belarussinnen und Belarussen. Es verschwanden sogar die gewohnten Mantras aus den Medien: „die Gleichgültigen und die Feigen“, die „Subventionsempfänger“ und „wann verbünden sie sich denn endlich?“. Doch nach und nach hat das Regime sich wieder gefangen. Es legte die alte Platte wieder auf, deren Melodien auch die unabhängigen Medien aufgegriffen haben: „Die neue Opposition wird zur alten.“ Nein, nicht die neue Opposition verwandelt sich – ihr tappt wieder in die alten Fallen. Gegenstand dieser Verleumdung ist es, das einzige politische Zentrum zu zerschlagen, das im Moment der Hauptvorteil der Belarussinnen und Belarussen ist. Denn ohne ein solches politisches Zentrum ist es sehr einfach, einer Nation die Handlungsfähigkeit und die Selbstbestimmung abzuerkennen. Ohne ein solches politisches Zentrum gibt es niemanden, der die belarussische Frage vor nationalen Regierungen und internationalen Organisationen zur Sprache bringt.

Und dann kann diese Leerstelle von einem „Mann mit Gewehr“ [Titel eines Films von 1938, der Lenin als prototypischen Führer des Proletariats darstellt. – Anm. d. Ü.] eingenommen werden – von einem, der glaubt, das Gewehr sei Ausdruck politischer Macht. Sollten solche Menschen über das Schicksal von Belarus entscheiden, wird diese historische Route die beiden Ziele weit verfehlen, die die Belarussinnen und Belarussen 2020 zusammengeschweißt haben: Freiheit und Demokratie. Und unter diesen Umständen wären ernsthafte Zweifel angebracht, ob es unter den zukünftigen Geschichtsbüchern überhaupt belarussische Lehrbücher geben wird.

Aus dem Russischen übersetzt von Nika Mossessian

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