20 October 2023Georgia

Literatur zwischen Zusammenarbeit und Widerstand

Geschichte und Strukturen des Literaturbetriebs im postsowjetischen Georgien

by Nuka Gambashidze
Collective Stand of Georgian Publishers at Frankfurt Book Fair 2023© Image courtesy of the organizers


Die Entwicklung der literarischen Organisationen in Georgien ist eine Erfolgsgeschichte der postsowjetischen Transformation. Dank der Unterstützung aus privater und öffentlicher Hand ist die georgische Literatur heute bekannter denn je, und die Anzahl der Übersetzungen von Belletristik- und Sachbuchtiteln ins Georgische ist signifikant gestiegen. Kulturmanagerin und Redakteurin Nuka Gambashidze [∗] stellt in ihrem Essay Geschichte und Strukturen des Literaturbetriebs im postsowjetischen Georgien vor. Bis 2017 war die Zusammenarbeit zwischen dem Staat und den Verbänden weitgehend ausgewogen: Die staatliche Förderung verlief ohne Einmischung in den literarischen Prozess. Doch 2017 hat sich das geändert: Die Regierungspartei Georgischer Traum und der Staat versuchen nun zunehmend, den literarischen Prozess zu kontrollieren. Nuka Gambashidze dokumentiert in ihrem Essay unter anderem den Kampf um Unabhängigkeit und gegen politische Einflussnahme.

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Obwohl Georgien auf ein umfangreiches literarisches Erbe und eine lange Geschichte zurückblickt, hat sich das nationale Verlagsgeschäft erst in den 1990er Jahren etabliert: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Wiedererlangung der Unabhängigkeit entstanden in Georgien private Verlage und Buchhandel sowie Kunst- und Kulturmagazine.

Im Gegensatz zu ihren Kollegen aus anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion hatten georgische Schriftsteller und Verleger einen Vorteil: die sprachliche Souveränität. Denn trotz ständiger Unterdrückung – zuerst im Russischen Reich und danach in der Sowjetunion – hat die georgische Umgangs- und Literatursprache die Zwangsrussifizierung gut überstanden.

In den 1990er Jahren mangelte es den georgischen Verlegern jedoch an Kenntnissen der freien Marktwirtschaft, weshalb sie aus der Praxis lernen mussten. Dazu gehörte auch das neue Fachwissen über den internationalen Handel mit Buchrechten, denn in der Sowjetunion wurden Übersetzungen von literarischen Werken weitgehend ohne Rücksicht auf Urheberrechte veröffentlicht. 1995 wurde in Georgien das Gesetz zum Schutz des geistigen Eigentums verabschiedet und das Land trat der Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst (1886) bei. 1997 wurde in Georgien auch die nationale ISBN-Agentur gegründet.

Private und staatliche Strukturen im Literaturbetrieb

Verlegerverband und Verlagswesen

Das Verlagswesen in Georgien entwickelte sich rasant, stieß jedoch bald an seine Grenzen. Eine davon setzte ausgerechnet die Einzigartigkeit der georgischen Sprache und des georgischen Alphabets: Als wertvolle Elemente der kulturellen Identität beschränken sie die Anzahl der potenziellen Leser auf drei Millionen. Das bedeutet geringe Gewinne und wirtschaftliche Instabilität für die Verlage. Auch die beliebtesten und meistverkauften Schriftsteller haben in Georgien Mühe, den Lebensunterhalt mittels ihrer literarischen Tätigkeit zu bestreiten.

Daher versuchten die georgischen Verlage Ende der 1990er bzw. Anfang der 2000er Jahre zunehmend, sich im internationalen Geschäft zu etablieren. Doch es stellte sich heraus, dass die in Georgien populären und beliebten Autoren für den Rest der Welt völlig unbekannt waren. Das Unterfangen, den internationalen Bekanntheitsgrad der georgischen Literatur zu erhöhen, schien kompliziert bis gar unmöglich.

Zum wesentlichen Bestandteil der Geschäftsstrategie wurde die Teilnahme an der Frankfurter Buchmesse – der weltweit größten und wichtigsten Fachmesse der Branche. Der erste nationale Gemeinschaftsstand georgischer Verlage in Frankfurt wurde 1997 organisiert: Die Finanzierung kam zunächst aus nichtstaatlichen Quellen.

Erst seit 2003, als nach der Rosenrevolution in Georgien eine neue Regierung gebildet worden war und die wirtschaftliche Lage sich zunehmend verbesserte, gab es staatliche Zuwendungen für den Kulturbetrieb: Kunst- und Literaturförderung wurde zu einem festen Bestandteil der strategischen Entwicklung des Landes. In dieser Zeit entstanden auch die Institutionen, die schließlich für einen nachhaltigen Fortschritt in der Entwicklung des literarischen Prozesses gesorgt haben.

Die erste dieser Institutionen war der 1998 gegründete Georgische Verleger- und Buchhändlerverband (GVB). Das vom GVB ins Leben gerufene jährliche Internationale Buchfestival Tbilissi, wird seit 2004 vom georgischen Kulturministerium gefördert. Im Jahr 2007 übernahm das Kulturministerium auch die Finanzierung des Nationalen Standes Georgiens auf der Frankfurter Buchmesse. Als Durchführungsgesellschaft wurde der Georgische Verleger- und Buchhändlerverband beauftragt.

Der GVB zählt derzeit 45 Mitglieder; 33 davon sind Verlage. Neben der Organisation von Literatur- und Bildungsprojekten vertritt und schützt der GVB als Branchenverband die Interessen und Rechte seiner Mitglieder.

Neben Belletristik, Sachbüchern und Kinder- und Jugendliteratur gehören auch Schulbücher zum Portfolio der georgischen Verlagshäuser. Den größten Teil ihrer Einnahmen erwirtschaften die georgischen Verlage mit dem Herausgeben von Schulbüchern. Das trägt auch zum Diversifizieren des Geschäftes bei.

Im Laufe der vergangenen Jahre hat der GVB mehrere Marktstudien in Auftrag gegeben: zunächst in Zusammenarbeit dem Nationalen Buchzentrum und dann mit dem Georgischen Schriftstellerhaus. Die Studien wurden für die Jahre 2012/2013, 2013 bis 2015 und 2016 bis 2020 durchgeführt. Dabei wurden jeweils 32 bis 34 aktive Verlage befragt. Die Ergebnisse belegen den stetigen Zuwachs von jährlich veröffentlichten Titeln. So ist im Zeitraum von 2008 bis 2016 die Anzahl von Buchveröffentlichungen in Georgien von 714 auf 1633 Titeln gestiegen. Im Jahr 2017 gab es zwar einen deutlichen Rückgang, doch bereits im Jahr 2018 erhöhte sich die Gesamtzahl von veröffentlichten Titeln um 22 Prozent. Während des Pandemiejahres 2020 sank die Zahl lediglich um 26 Titel auf 1577.

Weitere Daten der Marktstudie aus den Jahren 2012/2013 erlauben es die Entwicklung des Verlagsgeschäftes in Georgien mit der in den Nachbarländern zu vergleichen. So kamen in Armenien im Zeitraum von 2008 bis 2010 doppelt so viele Titel auf den Markt wie in Georgien. Dabei wies der georgische Markt eine steigende Tendenz auf, während in Armenien eine deutlich rückläufige Entwicklung zu beobachten war. Im Jahr 2012 war die Anzahl der veröffentlichten Titel in beiden Ländern bereits vergleichbar: In Armenien waren es 1549 neue Titel und in Georgien 1332.

Armeniens Nationaler Verlegerverband ist Mitglied beim Internationalen Branchenverband (International Publishers' Association – IPA). Der GVB trat 2008 dem IPA bei. Aktuell hat Gwantsa Jobawa, georgischer Verleger und ehemaliger GVB-Präsident, das Amt des IPA-Vizepräsidenten inne.

In Aserbaidschan vertritt die Aserbaidschanische Autorengesellschaft (AzAuthor) die Urheberrechte der Buchautoren. Anders als das Internationale Buchfestival in Tbilissi wird die Buchmesse in Baku von dem Privatunternehmen Caspian Event Organisers ausgetragen. Die Situation in Aserbaidschan gestaltet sich kompliziert: Das Recht auf freie Meinungsäußerung wird oft verletzt, Schriftsteller und Journalisten sind mit staatlicher Kontrolle und Repressionen konfrontiert. Die Regierung kann auch ihr Recht auf Reisefreiheit leicht einschränken und sie an der Ausreise hindern. In den Jahren 2019 und 2020 gewährte das PEN-Zentrum Georgien dem aserbaidschanischen Schriftsteller Raschad Ramasanow die Zuflucht. Auch der aserbaidschanische Journalist und Aktivist Afgan Muchtarli ging nach Georgien ins Exil, doch 2017 wurde er unter ungeklärten Umständen entführt und landete schließlich in einem aserbaidschanischen Gefängnis.

Verlage

Einer Marktstudie zufolge, die die Situation von 2016 bis 2020 in den Blick nimmt, gibt es in Georgien insgesamt knapp 50 aktive Verlage, von denen 32 an der Umfrage teilgenommen haben. Darüber hinaus teilen sich lediglich einige wenige Vertriebsunternehmen und kaum mehr als 20 Buchhandlungen (Ketten und Einzelunternehmen) den georgischen Markt. Im Jahr 2020 verfügten nur 13 Prozent der befragten Verlage über eine eigene Vertriebsstruktur.

Die bereits genannte Marktstudie ergab zudem, dass zwei Verlage – Palitra L Publishing und Sulakauri Publishing – mit der höchsten Anzahl an Titeln bzw. mit der größten jährlichen Gesamtauflage den georgischen Markt dominieren.

Gemessen an der Anzahl von jährlich herausgebrachten Titeln in der beliebtesten Kategorie Belletristik führen Palitra L Publishing, Sulakauri Publishing und Intelekti Publishing die Rangliste der wichtigsten Verlage des Landes an. Das gleiche Ranking gilt auch für die Einnahmen, die aus den Veröffentlichungen dieser Kategorie erwirtschaftet werden.

80 bis 90 Prozent der befragten Verleger gaben an, jährlich am Internationalen Buchfestival in Tbilissi teilzunehmen. 45 bis 60 Prozent von ihnen besuchen regelmäßig internationale Buchmessen.

2016 übertrafen die im Lande herausgebrachten Übersetzungen die Anzahl der Originaltitel in georgischer Sprache. Diese Daten haben sich jedoch im Jahr 2020 geändert: Georgische Originaltitel machten 52 Prozent aller Veröffentlichungen aus, während der Anteil der übersetzten Literatur auf 45 Prozent sank.

Literaturpreise

Literaturwettbewerbe bzw. -preise sind ein sehr wichtiges Instrument der Literaturförderung und tragen wesentlich zur Unterstützung des kreativen Prozesses bei. Nachstehend werden die drei wichtigsten und renommiertesten Literaturpreise Georgiens vorgestellt.

Der renommierte Saba Literaturpreis wurde 2002 ins Leben gerufen und wurde später um die erste elektronische Bücherverkaufsplattform in Georgien erweitert. Der Saba Literaturpreis wird in mehreren Kategorien für verschiedene Literaturgattungen sowie für den bedeutendsten Beitrag zur georgischen Literatur verliehen.

In den Jahren 2010 bis 2018 verlieh die Staatliche Ilia-Universität (die führende geisteswissenschaftliche Universität Georgiens) den landesweit am höchsten dotierten Literaturpreis für den besten Roman des Jahres.

Ein weiterer wichtiger Literaturpreis in mehreren Kategorien wurde 2015 vom Georgischen Schriftstellerhaus in Zusammenarbeit mit dem Kulturministerium gestiftet: Der Litera Preis. Im Gegensatz zum Saba Literaturpreis wurde Litera aus staatlichen Mitteln finanziert. Ähnlich wie bei Saba wurden die Gewinner von einer unabhängigen Jury ausgewählt. Die fünf Jury-Mitglieder wurden vom Organisationskomitee des Georgischen Schriftstellerhauses benannt. Anders als bei Saba gab es bei Litera eine Kategorie für das beste Buchdesign, nicht aber für die beste Übersetzung des Jahres. 2021 initiierte das Georgische Schriftstellerhaus einen weiteren Literaturpreis: Litera für Übersetzungen. Dieser Preis wurde in mehreren Kategorien verliehen. Doch Litera für Übersetzungen wurde bereits nach der ersten Vergabe im Jahr 2021 eingestellt: Das Kulturministerium kündigte die Finanzierung gleich beider Litera-Preise auf.

Als Alternative zu Litera führte das Kulturministerium eine Reihe von weiteren Preisen ein. Doch in den meisten Fällen wurden die Sieger-Titel bereits innerhalb ungewöhnlich kurzen Zeit nach der Ausschreibung des Wettbewerbs verkündet, so dass die Legitimität dieser Preise fragwürdig erscheint. In der Folge nehmen viele Autoren und Verlage an diesen Wettbewerben nicht teil.

Das Nationale Zentrum des Georgischen Buches

Das Nationale Zentrum des Georgischen Buches (NZGB) wurde 2014 mit dem Ziel gegründet, die georgische Literatur international zu fördern. Diese Institution wurde mit der Ausführung des Projekts „Georgien – Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2018“ beauftragt und war maßgeblich für dessen beispiellosen Erfolg verantwortlich.

Georgien war das erste Land aus dem Kaukasus, das zum Ehrengast der Frankfurter Buchmesse wurde. Die georgischen Verlage bereiteten sich auf diese Präsentation von 2007 bis 2009 vor, in dieser Zeit wurde die Literaturförderung zu einer der Prioritäten in der Kulturpolitik des Landes. Im Zeitraum von 2014 bis 2018 leitete das NZGB verschiedene Projekte und Initiativen zur Vorbereitung auf den Auftritt Georgiens als Gastland der Frankfurter Buchmesse. Unter anderem wurden Austauschprogramme für georgische und deutsche Verlage organisiert und Übersetzungsworkshops veranstaltet. In dieser Zeit (von 2014 bis 2018) übernahm das NZGB gemeinsam mit dem Georgischen Verleger- und Buchhändlerverband auch die jährliche Organisation des Nationalstands auf der Frankfurter Buchmesse.

Das NZGB rief auch das erste Förderprogramm des Landes für literarische Übersetzungen ins Leben, das die Veröffentlichung georgischer Literatur im Ausland unterstützten sollte. Diese Bemühungen schafften bis zum Jahr 2018 (in dem Georgien Ehrengast der Buchmesse war) eine völlig neue Realität: Der Status als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse bestätigte den bereits erreichten internationalen Stellenwert der georgischen Literatur, die nun in Deutschland bereits anerkannt war. Der Messeauftritt Georgiens als Gastland wurde zum großen Erfolg, und das Programm wurde sowohl in der deutschen als auch in der internationalen Presse in höchsten Tönen gelobt. Auch die Messeleitung betonte mehrfach, dass Georgien eines der denkwürdigsten Ehrengastprojekte auf die Beine gestellt hatte. Im Oktober 2018 titelte Der Spiegel: „Georgien ist spannend. Doch! Wirklich!“

Das Georgische Schriftstellerhaus

Das Georgische Schriftstellerhaus ist eine 2011 gegründete Kultur- und Bildungsstätte, die seit 2013 der Öffentlichkeit zugänglich ist. Zur Einrichtung gehören auch Präsentationsräume in einem historischen Gebäude in Tbilissi, in der Machabeli-Straße 13. Erbaut vom Philanthropen Dawit Saradschischwili zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Haus nach der sowjetischen Besetzung Georgiens im Jahr 1921 dem Schriftstellerverband übergeben. Es war Zeuge vieler tragischer Ereignisse, unter anderem während des sogenannten Großen Terrors der 1930er Jahre. Darüber hinaus beherbergt das Gebäude eine Schriftsteller-Residenz, die Dawit-Saradschischwili-Gedenkstätte, und das Museum der verfolgten Schriftsteller. Neben der Restaurierung des Gebäudes und der Verwaltung des öffentlichen Raumes organisierte die Einrichtung eine Reihe von Bildungs- und Kulturprojekten, richtete Literaturwettbewerbe aus und unterstützte mehrere Printmedien.

Nach den Interventionen seitens der Regierung im Jahr 2019 wurde das Schriftstellerhaus – im Zuge einer Umstrukturierung – mit dem Nationalen Zentrum des Georgischen Buches zusammengelegt. Nach dieser Fusion übernahm das Schriftstellerhaus gemeinsam mit dem Georgischen Verleger- und Buchhändlerverband die jährliche Organisation des Nationalstandes auf der Frankfurter Buchmesse, gestaltete Förderprogramme für literarische Übersetzungen, richtete eine Dialogplattform für Verleger und Workshops für Übersetzer aus.

Data and infographics from the presentation of the Writers’ House report in 2023Data and infographics from the presentation of the Writers’ House report in 2023© Writers’ House of Georgia

Laut dem Geschäftsbericht aus dem Jahr 2023 haben Das Nationale Zentrum des Georgischen Buches und das Schriftstellerhaus im Zeitraum von 2013 bis 2022 insgesamt 550 Übersetzungen georgischer Titel in 44 verschiedene Sprachen gefördert. Die meisten davon waren Übersetzungen ins Deutsche. Seit 2019 wurden Französisch und seit 2021 Spanisch bzw. die entsprechenden Märkte zur neuen Priorität der georgischen Verlagshäuser. Seit 2019 ist Französisch die zweitwichtigste Sprache für die vom Georgischen Schriftstellerhaus geförderten Übersetzungen.

2021 wurde Tbilissi von der UNESCO zur Welthauptstadt des Buches erklärt. Das Projektteam stellte damals im Laufe des Jahres zahlreiche Bildungs- und Kulturprojekte auf die Beine. Delegationen des Schriftstellerhauses, des georgischen Verleger- und Buchhändlerverbands und Vertreter des Projekts „Book Capital“ präsentierten Georgien mit einem Nationalstand auf der Internationalen Buchmesse in Guadalajara, der größten Buchmesse auf dem amerikanischen Kontinent. Im Jahr 2022 vertrat das Georgische Schriftstellerhaus Georgien auf der Internationalen Buchmesse in Buenos Aires – im Rahmen eines Gemeinschaftsstandes mit der Frankfurter Buchmesse.

Literarische Organisationen und der Staat

Die georgische Regierung betreibt Literaturförderung seit 2004. Bereits Ende der 2000er Jahre finanzierte der Staat – zumindest teilweise – die meisten nationalen und internationalen Literaturprojekte in Georgien. Auch das Finanzierungsmodell änderte sich zu dieser Zeit. Mit der Etablierung der Rechtsform „juristische Person des öffentlichen Rechts“ wurden zahlreiche dezentrale Institutionen gegründet: dem Kulturministerium unterstellt, jedoch mit einer unabhängigen Verwaltung ausgestattet und frei von staatlichem Einfluss. Zur Sicherung der Transparenz und Objektivität verfügten diese Institutionen über Beiräte, die in der Regel alle zwei Jahre neu mit Kunstschaffenden besetzt wurden. Damit konnten sich das Nationale Zentrum des Georgischen Buches, das Georgische Schriftstellerhaus und das Nationale Filmzentrum als weitgehend unabhängige Kulturinstitutionen etablieren.

Im Jahr 2012 kam die Partei Georgischer Traum an die Macht. Zunächst ginge es für die öffentlich-rechtlichen Kulturinstitutionen weiter wie bisher: Probleme mit staatlichen Eingriffen gab es nicht. Doch nach ihrem erneuten Wahlsieg änderte die Partei zunehmend ihre Politik.

2017 versuchte das Kulturministerium Einfluss auf die Tätigkeit des NZGB zu nehmen und Kontrolle über inhaltliche und kreative Gestaltung des Projektes „Georgien – Ehrengast der Frankfurter Buchmesse“ zu erlangen. Mit breiter Unterstützung georgischer Schriftsteller und Verleger gelang es dem NZGB, seine Unabhängigkeit zu bewahren und das Projekt erfolgreich durchzuführen. Dennoch wurde diese Auseinandersetzung zu einem Katalysator für Prozesse, die nach 2018 ihren Gang nahmen.

2019 löste das Kulturministerium das Nationale Zentrum des Georgischen Buches sowie das Georgische Schriftstellerhaus auf und fügte diese Institutionen und deren Projekte in einer dafür neu gegründeten Nationalen Literaturstiftung zusammen. Diese Entscheidung führte zu lautstarken und ausgedehnten Protesten in der Literaturszene und unter den Verlegern. Doch das Ministerium setzte sich im Juni 2019 durch: Die Geschäftsführerinnen des Schriftstellerhauses und des Nationalen Buchzentrums – Natascha Lomouri und Medea Metreweli – sowie einige weiteren Mitarbeiter wurden entlassen. Die restlichen Beschäftigten kündigten danach freiwillig.

Doch die neue Literaturstiftung funktionierte nur einen Monat lang: Der damalige Kulturminister wurde abgelöst und die Verhandlungen mit den Vertretern der Literaturszene wurden von dem designierten Minister wiederaufgenommen. Mit den Boykotts der neuen Institution durch Verleger, Verlegerinnen, Schriftsteller und Schriftstellerinnen im Hintergrund, führten diese Verhandlungen zur Abschaffung der Stiftung und zur Neugründung des Georgischen Schriftstellerhauses als öffentlich-rechtliches Kulturzentrum. Natascha Lomouri wurde als Geschäftsführerin mit einem auf vier Jahre begrenzten Vertrag (vorher unbefristet) wiederangestellt. Ehemalige Mitarbeiter kehrten in das Schriftstellerhaus zurück. Das zuvor aufgelöste Nationale Buchzentrum wurde mit dem Schriftstellerhaus zusammengelegt und der Großteil des Teams wurde vom Schriftstellerhaus übernommen.

Im Jahr 2021 wurde Tea Tsulukiani zur neuen Kulturministerin. Nach der Machtübername durch die Partei Georgischer Traum hatte sie bis 2019 das Amt der Justizministerin innegehabt. Ihr politisches Handeln in dieser Zeit machte die Kandidatur von Tea Tsulukiani für die meisten Kulturschaffenden inakzeptabel. Ein großer Teil der Kulturszene stand ihrer Eignung für diesen Posten bereits vor ihrer Ernennung sehr skeptisch gegenüber.

In den nachfolgenden zwei Jahren übte Tea Tsulukiani konsequent politischen Druck auf alle Kulturinstitutionen aus: Museen, Film- und Literatureinrichtungen. Im Jahr 2021 versuchte das Ministerium, sich in die Vergabe des Litera-Preises einzumischen und erließ eine Resolution. Diese verpflichtete die öffentlich-rechtliche Institution dazu, jeweils einen Vertreter des Ministeriums als Jurymitglied für jede Kategorie einzusetzen. Dieser Beschluss wurde von Schriftstellern und Verlegern boykottiert, indem sie ihre Teilnahme an dem Literaturwettbewerb verweigerten. Der Litera-Preis wurde daraufhin abgesagt. Noch im selben Jahr stiftete das PEN-Zentrum Georgien den symbolischen Alternativpreis Free Litera. Im Jahr 2022 strich das Kulturministerium seine Fördermittel für alle Litera-Preise und die Literaturfestivals. In den Jahren 2022 und 2023 wurden das Internationale Buchfestival und das Internationale Literaturfestival in Tbilissi (seit 2015 vom Georgischen Schriftstellerhaus ausgerichtet) ohne finanzielle Unterstützung des Ministeriums durchgeführt. Die literarischen Institutionen Georgiens leisteten heftigen Widerstand gegen die staatliche Zensur und lehnten die Förderung bzw. Auszeichnung auf Grund politischer Präferenzen strikt ab. Die Mehrheit der georgischen Schriftsteller und Schriftstellerinnen stand auch öffentlich äußerst kritisch der Politik der Regierungspartei gegenüber.

Nach dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine im Frühjahr 2022 kam es zur drastischen Eskalation der politischen und sozialen Spannungen in Georgien. Ausgelöst wurden diese Spannungen dadurch, dass die georgische Regierung keine klare Stellung zu diesem Krieg bezogen und in den offiziellen Regierungserklärungen das Vorgehen Russlands nicht entschieden verurteilt hatte. Doch ihren Höhepunkt erreichten die Proteste in Georgien im Jahr 2023, als die empörten Bürger sich gegen die Gesetzesinitiative gegen sogenannte „ausländische Agenten“ auflehnten. Die Polizei setzte Wasserwerfer und Tränengas ein. Nach tagelangen Massendemonstrationen gab das Parlament nach und zog das Gesetzesvorhaben zurück, obwohl der Gesetzesentwurf bereits am ersten Tag der Proteste mit einer Mehrheit von 76 Stimmen in erster Lesung angenommen worden war.

Im August 2023 wurde bekanntgegeben, dass Ketewan Dumbadse zur neuen Geschäftsführerin des Georgischen Schriftstellerhauses werden sollte. Als Abgeordnete der Partei Georgischer Traum gehörte Dumbadse zu den Unterstützern des oben erwähnten, von Russland inspirierten Gesetzesvorhabens.

Die breite Mehrheit der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Übersetzerinnen, Übersetzer, Verlegerinnen und Verleger war gegen diese Kandidatur an der Spitze des Schriftstellerhauses: Sie veröffentlichten kurz nach der Bekanntgabe dieser Nachricht eine gemeinsame Petition, in der sie die Rücknahme der Ernennung und eine Neuwahl verlangten. Als Ketewan Dumbadse am 4. September dennoch zur neuen Geschäftsführerin ernannt wurde, unterzeichneten mehr als 100 Vertreter des Literaturbetriebes Georgiens eine Erklärung, in der sie das Vorgehen des Kulturministeriums scharf kritisierten und ihm einen Boykott erklärten: Jede Förderungs- bzw. Finanzierungsmöglichkeit durch den Staat wurde damit abgelehnt.

Collective Stand of Georgian Publishers at Frankfurt Book Fair 2023Collective Stand of Georgian Publishers at Frankfurt Book Fair 2023© Image courtesy of the organizers

Auf Grund dieses Boykotts war Georgien 2023 auf der Frankfurter Buchmesse nicht mit einem Nationalstand vertreten, für dessen Organisation das Schriftstellerhaus und der Georgische Verleger- und Buchhändlerverband zuständig waren. Dennoch ist es den georgischen Verlagen gelungen, sich zusammenzuschließen und einen Gemeinschaftsstand zu organisieren. Auch georgische Autorinnen und Autoren, deren Bücher 2023 auf Deutsch erschienen waren, besuchten mit Unterstützung der Verlage die Frankfurter Buchmesse. Das Konzept des Standes thematisierte das Streben der georgischen Gesellschaft nach europäischer Integration und bezog sich unter dem Motto „Georgische Buchstaben im Widerstand“ auf wichtige Meilensteine der georgischen Geschichte bis in die Gegenwart. Dieses Motto war eine Anspielung auf den offiziellen Gastland-Slogan 2018 „Georgien – von Buchstaben erschaffen“ und setzte damit den Widerstand der Verleger und Schriftsteller gegen die aktuelle Kulturpolitik in Szene. Die Tatsache, dass georgische Literaturschaffende trotz alledem 2023 in Frankfurt Präsenz zeigten, ist bewundernswert und macht Hoffnung. Doch da die Möglichkeiten des Dialogs und der Zusammenarbeit mit dem Kulturministerium auf Grund der Kontrollpolitik der Ministerin Tsulukiani erschöpft zu sein scheinen, wird es wohl sehr schwierig, eine nachhaltigen Literaturförderung und die internationale Präsenz der georgischen Literatur langfristig aufrechtzuerhalten.

[∗] Nuka Gambashidze, Kulturmanagerin. Sie machte einen BA-Abschluss in Marketing und Betriebswirtschaft an der Kaukasus-Universität und einen MA-Abschluss in Vergleichender Literaturwissenschaft an der Staatlichen Ilia-Universität in Tbilissi. Von 2016 bis 2023 arbeitete Nuka Gambashidze im Kulturzentrum des Georgischen Schriftstellerhauses als Kuratorin für internationale Literaturprojekte und als Eventmanagerin. Im Jahr 2018 übernahm sie die Koordination der Verlagsprogramme für das Projekt „Georgien – Ehrengast der Frankfurter Buchmesse“. In den Jahren 2020 und 2021 leitete sie internationale Projekte des PEN-Zentrums Georgien. Derzeit ist sie für das Management von Urheberechten georgischer Autoren im Verlag Sulakauri Publishing zuständig.

Aus dem Englischen übersetzt von Elena Cueto

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