20 November 2023Moldova

Von „gemeinsam“ zu „gegeneinander“

Über die unterschätzte Gefahr, Menschen in „die Unseren“ und „die Fremden“ einzuteilen

by Sergey Ehrlich
The language issue in Moldova has often caused conflicts, including the armed conflict in Transnistria.© NewsMaker.md


Trotz ihrer Nachbarschaft zur sich im Krieg befindenden Ukraine zählt die Republik Moldau weiterhin zu den „ruhigen“ Ländern des sogenannten postsowjetischen Raums. Doch diese Stabilität ist fragil und es ist leicht, die gegenwärtige Balance zu stören, warnt der promovierte Historiker Sergej Ehrlich, Chefredakteur der Zeitschrift Die historische Expertise.

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Vor Kurzem hat es in Moldau einen Skandal gegeben. Es wurde bekannt, dass in Musiklehrbüchern für die fünften Klassen die Hymne der Republik Moldau, die auf dem Gedicht Unsere Sprache von Alexei Mateevici basiert, in russischer Übersetzung abgedruckt ist. Einige bezeichneten das als „Profaniserung“ der Hymne, andere als „Unsinn“. Das Bildungsministerium versprach, den Sachverhalt aufzuklären und verkündete schließlich, dass sie gemäß des Gesetzes Über die Staatshymne auf Rumänisch zu singen sei.

Bezeichnend ist jedoch die öffentliche Reaktion, die diese Nachricht auslöste. Sie gründet auf einer Einteilung in „wir“ und „sie“, „die Unseren“ und „die Fremden“, „die Anderen“. Es ist äußerst leicht, eine Spaltung der Gesellschaft zu provozieren. Und das ist gefährlich und darf nicht außer Acht gelassen werden.

Menschen gegen Menschen

Das Wachstum der unterschiedlichen menschlichen Populationen führte zum Wettbewerb um Ressourcen und um die Gebiete, in denen diese Ressourcen verfügbar waren. Zuerst bekämpften und vertrieben die Cro-Magnon-Menschen mit Werkzeugen, die sie als Waffen benutzten, die Neandertaler und die Denisova-Menschen. Anschließend begannen sie, sich untereinander um Jagd-, Fischerei- und Sammelgebiete zu bekriegen. Um die ständigen Kriege zu überleben, entwickelte sich bei den Urmenschen so etwas wie eine mentale Wunderwaffe: die Ethnie („das Volk“, „die Nation“). Damit regelten sie die Kontakte innerhalb und zwischen den Stämmen so, als ob es sich bei ihnen um unterschiedliche biologische Arten handelte. Viele unserer in ethnischen Kategorien denkenden Vorfahren betrachteten nämlich nur die Mitglieder ihres Stammes als Menschen.

Letzte Grundlage jeder noch so „raffinierten“ ethnischen Gemeinschaft des „Wir“ ist die kannibalisierende Entmenschlichung „der Anderen“. Bronislaw Malinowski, der Klassiker der Kulturanthropologie, schrieb, dass es vor der Erfindung der Viehzucht und des Ackerbaus aufgrund der geringen Arbeitsproduktivität unmöglich war, Gefangene auszubeuten. Daher bestand der Hauptzweck der Kriegsführung darin, Nahrung für „uns“ zu beschaffen und gleichzeitig nicht zur Nahrung für „die Anderen“ zu werden. Der Schrecken, selbst zur Nahrung für andere zu werden, wurde durch eine Art Psychotherapie, eine ausgeklügelte Form der Folter, gelindert, die dem Ritual des Verschlingens des Feindes vorausging. Dieses Urtrauma der Menschheit bleibt unverarbeitet, denn bei modernen Menschen löst die bloße Andeutung von Kannibalismus einen Würgereiz aus. Aber auch wenn das Trauma unbewusst bleibt, heißt das nicht, dass es ausgelöscht ist. Gerade weil es in die Tiefenschichten des Unterbewusstseins verdrängt wurde, bestimmt es über unser Verhalten.

Mit dem Aufbau von für beide Seiten vorteilhaften Beziehungen zwischen Vertretern der unterschiedlichen ethnischen Gruppen wurden die Sitten allmählich milder. Man hörte auf, Gefangene zu grillen. Doch die Worte des Apostels Paulus „Hier ist nicht Jude noch Grieche“ haben wir uns bis heute nicht zu Herzen genommen. Leider wird in Krisensituation auch heute noch jedes Mal die ethnische Sicht auf die Welt aktiviert und provoziert Kriege und Völkermorde.

Die Wurzeln der Feindschaft

Alle drei militärischen Konflikte, die heute im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen, sind ethnisch motiviert. Doch während Putin die Ukraine in einer „brüderlichen“ Umarmung erwürgt, weil er glaubt, dass Belarussen, Russen und Ukrainer „ein Volk“ seien, interpretieren Aserbaidschaner und Armenier, Araber und Juden ihre jeweiligen Auseinandersetzungen mit historisch begründeten Rechtsansprüchen eines „indigenen Volkes“.

Der Begriff „indigenes Volk“ ist meiner Meinung nach „toxisch“. Er vergiftet das Leben nicht nur metaphorisch, sondern tötet wirklich. So betrachten sich die Juden beispielsweise als „indigenes Volk“, weil Josua, der Sohn Nuns im zweiten Jahrtausend vor Christus Kanaan eroberte. Die Araber beanspruchen den gleichen Titel, weil sie viel früher als die „zugewanderten Aschkenasen“ dort lebten. Dieser Streit ist unlösbar.

Es ist unmöglich, einem Menschen, dessen Vorfahren seit Jahrzehnten, Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden in einem Land leben, zu erklären, dass er oder sie nicht zum „indigenen Volk“ gehört, weil ein anderes Volk glaubt, dass seine Vorfahren schon vorher dort gelebt hatten. Solche Streitigkeiten können nur zu Feindschaften führen, die in Mord münden, wie wir mit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wieder einmal gesehen haben.

Leider hat die UNO diesem toxischen Begriff Legitimität verliehen. Am 13. September 2007 beschloss die UNO-Generalversammlung nach zwanzigjähriger Debatte die Erklärung über die Rechte der indigenen Völker. Die Verfasser versäumten es jedoch, den Begriff „indigene Völker“ zu definieren. Dies ist ein klares Zeichen dafür, dass die Expertise der UNO bei dieser sehr schweren Aufgabe versagte. Aus dem Kontext geht klar hervor, dass es sich um kleine Völker wie die Tschuktschen oder die indigene Bevölkerung der USA (die Native Americans) handelt, deren Land von Kolonisatoren beschlagnahmt wurde.

Die gute Absicht der Erklärung ist es, ethnischen Minderheiten zu helfen, ihre kulturelle Einzigartigkeit zu bewahren. Doch durch die Wahl eines unpassenden Begriffs verlieh die UNO entgegen ihren Absichten den ethnokratischen Bestrebungen von Politikern der jungen „Titularnationen“ eine bestimme Legitimität. Sie konnten nun ihr Recht als ehemals unterdrückte „indigene Völker“ beanspruchen, um ethnische Minderheiten mit der Begründung zu benachteiligen, sie seien „Fremde“ oder „Besatzer“. So hat das Dokument, anstatt ethnische Minderheiten zu schützen, im Gegenteil rhetorische Voraussetzungen für deren Diskriminierung geschaffen.

Was hat das mit Moldau zu tun?

Moldau ist eines der vielen Länder Osteuropas, in denen die Konfrontation zwischen der „einheimischen“ Mehrheit und den „Zugewanderten“ immer wieder in den Medien hochgespielt und in den sozialen Netzwerken ausgiebig durchgekaut wird. Auch die Politiker spielen dabei eine wichtige Rolle. Im Jahr 2015 warf der Vorsitzende der Liberalen Partei, Mihai Ghimpu, der von 2009 bis 2010 Parlamentspräsident war und die Rolle des amtierenden Präsidenten übernahm, Gaugasiern vor, „zugewandert“ und nicht loyal gegenüber der „einheimischen“ Bevölkerung der Republik Moldau zu sein: „Sie leben zwar auf unserem Land, aber ihre Gedanken drehen sich um den Kreml, sie sind zufrieden, dass der russische Zar sie hierher gebracht und ihnen Unterkunft, Nahrung und Land gegeben hatte. Ja, er brachte sie hierher – in unser Haus.“

Eine solche Argumentation zeigt, dass es den Politikern, die sich immer wieder auf die Geschichte berufen, nicht wirklich darum geht, „wie es eigentlich gewesen ist“ (Leopold von Ranke).

Ergebnisse der Volkszählungen in Prozent
(Ende des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 21. Jahrhunderts) [∗]


Trotz der brutalen ethnischen Säuberungen des Zweiten Weltkriegs und der Massenauswanderung während des Zusammenbruchs der UdSSR leben heute in Moldau noch Vertreter von fünf großen ethnischen Gruppen, deren Anteil in der Gesamtbevölkerung des Landes sich jeweils auf mehr als ein Prozent beläuft: Moldauer, von denen sich einige als bessarabische Rumänen bezeichnen, Ukrainer, Russen, Gagausen und Bulgaren. In Rumänien gibt es drei solche Gruppen: Rumänen, Ungarn und das Volk, das sich dort selbst als „Roma“ bezeichnet. In der Ukraine gibt es nur zwei ethnische Gruppen: Ukrainer und Russen.

Die ethnografische Vielfalt in der Republik ist auf keinen Fall dadurch entstanden, dass sie früher zur Sowjetunion gehörte. Vor dem Zweiten Weltkrieg war die Vielfalt sogar noch größer gewesen. Neben den fünf oben genannten ethnischen Gruppen lebten hier auch zahlreiche Juden und Deutsche. Letztere wurden 1940 durch ein Abkommen zwischen Hitler und Stalin dazu gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen.

Nach dem 22. Juni 1941 wurde die Mehrheit der bessarabischen Jüdinnen und Juden durch die Einsatzgruppen der Nationalsozialisten, die rumänischen Behörden und auch die lokale Bevölkerung vernichtet. Die Beraubung und Ermordung der jüdischen Nachbarn ist im kollektiven Gedächtnis immer noch ein Randthema.

Die letzten verbliebenen bessarabischen Juden verließen das Land in den Jahren der Perestroika, eingeschüchtert durch die Demonstrationen der Anhänger der nationalen Wiedergeburt und deren Slogan „Russen hinter den Dnjestr! Juden in den Dnjestr!“. Die Ideologen der „Titularnation“ behaupten heute, die Kämpfer gegen die sowjetische Besatzung – viele von ihnen waren übrigens Mitglieder der Kommunistischen Partei der Sowjetunion – hätten sich auf den Ruf: „Koffer packen, Bahnhof, Russland!“ beschränkt, die Gruselslogans über die Juden dagegen hätte der KGB erfunden.

Die bessarabischen Juden, die das Pogrom von Chişinău, den rumänischen Holocaust, Stalins Kampagne gegen „heimatlose Kosmopoliten“ und Breschnews „Kampf gegen den Zionismus“ erlebt hatten, machten sich nicht mehr die Mühe, nach den wahren Urhebern der antisemitischen Äußerungen zu suchen. Zehntausende Juden und eine nicht minder große Zahl von Russen und städtischen Ukrainern, darunter viele qualifizierte Fachkräfte, verließen damals die Republik. Nach der Volkszählung von 2014 lebten im selben Jahr nur noch 1.600 Juden im Land.

Ein weiteres Indiz dafür, dass die Gemeinschaften der ethnischen Minderheiten nicht erst aus der Sowjetzeit stammen, ist die Tatsache, dass sie zu einem großen Teil nicht der städtischen Bevölkerung angehören. Es handelt sich dagegen um die „talpă țării“ (rumänisch für „Bauern“, „Einheimische“, wörtlich „Säulen des Landes“), die in Moldaus ukrainischen, gagausischen oder bulgarischen Dörfern leben (unter anderem gibt es auch Dörfer, die von russischen Altgläubigen bewohnt sind). Die Anzahl solcher Dörfer, in denen ethnische Minderheiten leben, beläuft sich insgesamt auf fast 500. Moldau ist das Heimatland dieser Menschen, das sie nur unter Androhung von Mord oder Hunger verlassen würden.

Das jahrhundertelange Zusammenleben

Ebenfalls irren sich diejenigen, die wie der oben zitierte Ghimpu glauben, multiethnische Zuwanderer hätten den Moldauern im Zuge der russischen Annexion von 1812 Ackerland und Weiden weggenommen. Ja, Gagausen, Bulgaren und Deutsche zogen zwar auf Einladung der zaristischen Behörden in den Süden von Bessarabien. Doch sie ließen sich nicht auf den Gebieten nieder, die den Moldauern gehörten, sondern auf denen, die unter der direkten Herrschaft des Osmanischen Reiches (die so genannten „Reaya“) oder unter der Kontrolle von der Budschak-Horde mit ihrer Hauptstadt in Căuşeni standen.

Dieser Zweig des Krim-Khanats entstand im 17. Jahrhundert. Und am linken Ufer des Dnjestr, auf dem Gebiet der heutigen Republik Moldau, gab es im 18. Jahrhundert einen zweiten Tatarenstaat, die Jedisan-Horde. Nach 1812 nahm die zaristische Regierung die stalinistischen Deportationen vorweg, indem sie die Budschak-Tataren aus Bessarabien vertrieb und auf ihrem Land diejenigen ansiedeln ließ, die damals offiziell als ausländische Kolonisten bezeichnet wurden.

Nicht nur der Süden Bessarabiens, sondern auch die Gebiete, die vor 1812 unter der Kontrolle des Fürstentums Moldau standen, waren während seiner gesamten Geschichte (als Gründungsdatum gilt 1359) durch eine multiethnische Zusammensetzung gekennzeichnet. Der moldauische Fürst und der erste russische Universalgelehrte (seit 1714 Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften) Dimitrie Cantemir bezeugt in seiner Monographie Beschreibung der Moldau:

„Ich glaube nicht, dass es ein anderes Land von der Grösse der Moldau giebt, in welchem so viele und so verschiedene Völker anzutreffen sind. Ausser den Moldauern, deren Vorfahren aus Maramorisch zurück kamen, wohnen noch Griechen, Albanier, Servier, Bulgaren, Polaken, Kosaken, Russen, Hungarn, Deutsche, Armenier, Juden und die fruchtbaren Zigeuner (Cyngari, Czigani), in der Moldau.“

Diejenigen, die von Cantemir und den moldauischen Chronisten des 17. Jahrhunderts als „Russen“ und „Kosaken“ bezeichnet werden, sind in Wirklichkeit die Vorfahren der heutigen Ukrainer. (Denn die Moldauer, wie auch die Polen, bezeichneten die Vorfahren der heutigen Russen als „Moskowiter“.) Im heutigen Moldau gibt es in der Tat dreihundert ukrainische Dörfer, einige davon mit jahrhundertealter Geschichte.

Wenn die Slawen, deren Vorfahren seit Jahrhunderten in Moldau leben, als „Fremde“ bezeichnet werden können, dann können sich die Moldauer auch nicht als „einheimisches Volk“ betrachten. In der zitierten Aussage von Cantemir heißt es, die Moldauer würden aus Maramuresch (Nordtranssilvanien) stammen.

Er entnahm diese Information den früheren Chroniken. So schreibt der Chronist Simion Daskălul aus dem 17. Jahrhundert, dass der ungarische König Laszlo (Ludwig I.) die Tataren besiegt und sie aus dem Gebiet zwischen den Karpaten und dem Dnjestr vertrieben habe. Das so entstandene politische Vakuum wurde unter der Führung von Dragoş mit Moldauern gefüllt, die 1359 in den neuen Gebieten einen Staat gründeten.

Gleichzeitig mit den Moldauern, die aus der Region hinter den Karpaten kamen, seien „Russen“ (Vorfahren der späteren Ukrainer) aus dem Land der Ljachen (gemeint ist das Gebiet der heutigen Westukraine, das damals von Polen kontrolliert wurde) gekommen, so der Chronist, und seither sei „die Hälfte des Landes von Russen und die andere Hälfte von Rumänen bewohnt“ (eine der frühesten Verwendungen des Wortes).

Der ethnische „Dualismus“ war der Grund für die Erfindung des Namens „Russovlahia“, d. h. Land der Russen und der Walachen (Moldauer), der in den Quellen als ein Synonym für die Karpaten-Dnjestr-Länder zu finden ist. Aber nicht nur die Moldauer und die „Russen“ waren die ersten Bewohner des neuen Staates, sondern, so Daskălul, auch Deutsche und Ungarn. Das Fürstentum Moldawien war also von Anfang an multiethnisch.

Die Einheimischen gegen die „Zugewanderten“

Anhand der oben genannten Belege können wir feststellen, dass die Gegenüberstellung von „Einheimischen“ und „Zugewanderten“ in Bezug auf die Republik Moldau nicht dafür geeignet ist, um das Zusammenleben zwischen den Ethnien zuverlässig zu beschreiben. Sie ist kein wissenschaftliches, sondern ein ideologisches Instrument. Politiker benutzen diese Gegenüberstellung, um die öffentliche Aufmerksamkeit von der strukturellen Korruption abzulenken und ihrer Unfähigkeit, das Alltagsleben der Wählerschaft zu verbessern. Um Saltykow-Schtschedrin zu paraphrasieren: „Wenn man in Moldau anfängt, von ,Einheimischen’ und ,Zugewanderten’ zu sprechen, kann man sich sicher sein: irgendwo wurde irgendetwas gestohlen.“

Die moldauische Politik funktioniert nach dem Prinzip: „Wir fahren zusammen, und jeder darf mal lenken.“ Politische Gegner, die sich in der Öffentlichkeit kompromisslos kritisieren, nehmen beim Betreten von Regierungsbüros ihre Masken ab und entpuppen sich als Komplizen. In diesem politischen Theater sind alle Rollen festgelegt.

Im Jahr 2001 kam in Moldau der Anführer der kommunistischen Partei Wladimir Woronin an die Macht und versprach, dem Russischen den Status einer Staatssprache zu verleihen. Alle Minderheiten stimmten „für die Kommunisten“, und auch die Mehrheit der ethnischen Moldauer, die in jenen Jahren massenhaft auswanderten, um in Russland zu arbeiten, waren nicht „gegen“ sie. Nachdem er die Mehrheit im Parlament erlangt hatte, vergaß Woronin seine Wahlversprechen, da seine „einheimischen“ politischen Gegner lautstark gegen die Rechte der „Zugewanderten“ protestierten und ihr Geschrei ihn daran hinderte, Korruptionsstrukturen aufzubauen (Geld liebt bekanntlich die Stille).

Im Jahr 2009 verlor Woronin die Macht. Dafür wurde der ominöse Oligarch Wladimir Plahotniuc , der zu Woronins Umfeld gehörte, immer mächtiger. Er regierte das Land aus dem Verborgenen , ohne ein öffentliches Amt zu bekleiden. Aber er nahm Einfluss auf alles und hatte einen auf seine Art und Weise genialen Plan ausgeheckt. Als Vorsitzender der proeuropäischen Demokratischen Partei änderte er die Verfassung und organisierte die Präsidentschaftswahlen so, dass der prorussische Sozialist Igor Dodon gewinnen würde. Dies spaltete die moldauische Gesellschaft noch mehr, erleichterte aber Plahotniuc das Regieren über das Land.

Im Jahr 2019 stürzte das Regime von Plahotniuc und er musste aus dem Land fliehen, so dass die Macht für kurze Zeit in den Händen von Dodon lag. Dieser Politiker setzte ausschließlich auf Moskau: So erhielt Moldau einen Beobachterstatus bei der von Russland überwachten Eurasischen Wirtschaftsunion. Diese ausschließlich prorussische Ausrichtung verärgerte einen anderen Teil der moldauischen Gesellschaft. Nämlich denjenigen, der meint, dass Moldau Teil der Europäischen Union sein sollte, oder ein Teil Rumäniens, das bereits Mitglied der EU ist.

Bei den Präsidentschaftswahlen von 2020 setzte sich Maia Sandu gegen Igor Dodon durch. Als proeuropäische Politikerin gewann sie unter anderem russischsprachige Wähler für sich, indem sie Russland nicht dem Westen gegenüberstellte, wie es moldauische Politikerinnen und Politiker während der Wahlkampagne gewöhnlich tun. Sie versprach vielmehr, Armut und Korruption zu bekämpfen, also Probleme zu lösen, die zu dieser Zeit für die Bevölkerung viel wichtiger waren als geopolitische Themen.

Sie und ihr Team begannen ihre Amtszeit, indem sie 2021 den Generalstaatsanwalt, den ethnischen Gagausen Alexander Stoianoglo, entließen. Er war seit 1991 der einzige Angehörige einer ethnischen Minderheit, der eines der höchsten Staatsämter innehatte. Bereits im Jahr 2023 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt, dass die Behörden mit der Entlassung von Stoianoglo gegen seine Rechte verstießen.

Dies sind nur einige Beispiele dafür, wie Politiker abwechselnd auf die Tasten „einheimische Mehrheit“ oder „ethnische Minderheiten“ drücken. Die Geschichte lehrt uns, dass die ethnische Zugehörigkeit jenes Gewehr aus der Theaterrequisite ist, das nach der Tschechowschen Dramaturgie-Regel doch einmal schießen wird – nur leider mit echten Patronen. Deshalb sollte man diese Waffe auf der politischen Bühne nicht zur Schau stellen.

Aus dem Russischen übersetzt von Nika Mossessian


[∗] Quellen:

1897 Die Bessarabische Gubernija: Die erste allgemeine Volkszählung des Russischen Imperiums 1897:[ Bände 1-89] / herausgegeben von H.A. Trojnizki. Sankt Petersburg, Die Statistik-Kommission des Innenministeriums, 1899–1905. Band 3: Die Bessarabische Gubernija. 1905, S. 70-72.
1931 Bessarabien: Evoluția structurii etnice a populației Basarabiei / Republicii Moldova: studiu comparativ 1930–2014.
1941 Bessarabien (alle Kreise (judeţe)
1959 MSSR
1970 MSSR
1979 MSSR
1989 MSSR
2014 Die Republik Moldau ohne Transnistrien

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