4 July 2023Moldova

Vorposten auf tönernen Füßen

Wie der Krieg in der Ukraine die Situation um Transnistrien verändert hat

by Vladimir Soloviev
© Vladimir Soloviev


Vor Russlands Angriff auf die Ukraine war Transnistrien für Moskau ein Instrument der Einflussnahme auf Moldau. Der Krieg hat die Möglichkeiten des Kremls, die Situation am Dnister zu beeinflussen, stark eingeschränkt und die Lage der nicht anerkannten Republik sehr verwundbar gemacht.

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In nicht anerkannter Einsamkeit

Es gibt kein einziges Land, das die Nicht-Anerkennung Transnistriens und die Zugehörigkeit dieses Territoriums zu Moldau infrage stellt. Dies unterscheidet die Situation am Dnister von allen anderen. Seit 2022 wird der Transnistrien-Konflikt als einziger einhellig als ungeregelter Territorialkonflikt im postsowjetischen Raum wahrgenommen. Der georgisch-abchasische und der georgisch-ossetische Konflikt wie auch der Konflikt im Donbass, der sich zu einem großen Krieg Russlands gegen die Ukraine entwickelt hat, all diese Konflikte sind weder aus georgischer und aus ukrainischer noch aus Sicht der Mehrheit der UNO-Mitgliedstaaten gelöst. Für Russland jedoch, auf jeden Fall für seine jetzigen Machthaber, sind diese Fragen eindeutig geklärt. 2008 hat Moskau die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens anerkannt, gefolgt von Nicaragua, Venezuela, Nauru und Syrien. Dieses Anerkennungsverfahren hat Russland im Februar 2022 erneut angewandt, diesmal ging es um die selbsternannten und von ihm unterstützten Volksrepubliken Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine. Noch zwei weitere UNO-Mitgliedstaaten haben zugestimmt: Syrien und die Demokratische Volksrepublik Korea. Diese teilweise Anerkennung hat nicht lange gehalten [Russland hat die Gebiete annektiert. – Anm. d. Red.]. Am 30. September 2022 wurde ein Abkommen zum Anschluss der Volksrepubliken Donezk und Luhansk wie auch der ukrainischen Gebiete Saporischschja und Cherson an Russland unterzeichnet. Obwohl der Krieg gegen die Ukraine weitergeht und Kyjiw und der Westen Russlands Schritte als Annexion betrachten, geht Moskau davon aus, dass es eine neue Realität geschaffen hat und dass es kein Zurück mehr gibt.

Die Besetzung Chersons und der darauf folgende Rückzug der russischen Armee aus der Stadt sowie aus dem Gebiet um Charkiv zeugen von Kyjiws Unwillen, die territorialen Verluste hinzunehmen und geben Anlass zur Annahme, dass die neue, von Russland geschaffene Realität nicht lange währen wird.

Unter den territorialen Konflikten [im postsowjetischen Raum.– Anm. d. Red.] gibt es außerdem einen besonders langlebigen: der Konflikt in Bergkarabach. Aus Sicht Aserbaidschans ist er geregelt. Nach dem Sieg über Armenien 2020 ist nur ein Teil der nicht anerkannten Republik Arzach übrig geblieben, der weniger als 30% jenes Gebietes umfasst, der vor dem zweiten Krieg um Bergkarabach der Republik gehört hat. Die von Armeniern bevölkerte Enklave ist noch nicht ganz unter der Kontrolle von Aserbaidschan, aber der Prozess geht in diese Richtung. Baku betrachtet das Problem von Bergkarabach ausschließlich als eines der armenischen Minderheit auf aserbaidschanischem Gebiet, das ohne Rücksicht auf fremde Player zu lösen sei. Das hat die neueste Geschichte mit der Eröffnung eines aserbaidschanischen Kontrollpunkts im Latschin-Korridor, der Hauptverbindungsstraße zwischen dem Kernland Armenien und der De-facto-Republik, demonstriert.

So verbleibt Transnistrien, die Pridnestrowische Moldauische Republik (PMR), auch heute noch in nicht anerkannter Einsamkeit. Im Herbst 2023 wird die PMR ihr 33-jähriges Bestehen und ihre Unabhängigkeit von Moldau feiern. Eine Unabhängigkeit, die zwar von keinem einzigen UNO-Mitgliedstaat anerkannt ist, aber formell so gestaltet wurde, dass Russland immer die Möglichkeit hat, den Status-Quo am Dnister zu ändern – etwa über Referenden. Das letzte, international nicht anerkannte Referendum hat im September 2006 stattgefunden: 97,1% der Bevölkerung, die an der Volksabstimmung teilgenommen haben, sprachen sich für die Unabhängigkeit von Transnistrien und den Anschluss an Russland aus.

Ein Sonderfall

In den 33 Jahren, die PMR nun existiert, hat Moskau niemals ernsthaft die Frage nach der Anerkennung der Unabhängigkeit dieser Region gestellt. Nachdem Kosovo 2008 als unabhängig anerkannt wurde, hat Moskau eher halbherzig die Anerkennung der PMR wie auch Abchasiens und Südossetiens vorbereitet. Diese drei nicht anerkannten Republiken haben sich damals mit einer entsprechenden Bitte an die russischen Behörden gewandt. Das Signal wurde gehört. Die Staatsduma hat Anhörungen durchgeführt und alle drei Anträge gleichzeitig behandelt. Aber das radikale Szenario, die Anerkennung der Unabhängigkeit, wurde dabei unter den Teppich gekehrt. Im Fall von Abchasien und Südossetien jedoch nicht für lange: Bis zum russisch-georgischen Krieg im August 2008, nach dem Moskau dann doch die Unabhängigkeit der zwei georgischen Regionen anerkannt hat, vergingen nur fünf Monate. Im März hatte die Staatsduma der Regierung lediglich empfohlen, das Format der Beziehungen zu Abchasien, Südossetien und Transnistrien neu zu überdenken.

In Bezug auf Transnistrien hat Russland dabei eine Sonderstellung eingenommen. Nach den Ergebnissen der Anhörungen wurde verkündet, dass Russland Moldau als einheitlichen Staat betrachtet, in dem die PMR einen Sonderstatus haben sollte. Diese Einstellung spiegelt die Position des Kremls wider, dem es nicht darum geht, Chișinău zu helfen, die territoriale Einheit wiederherzustellen. Das wurde zwar immer deklariert, aber nur zum Schein, um von den eigentlichen Zielen Russlands in Moldau etwas abzulenken.

Für Moskau ist der Transnistrien-Konflikt weniger ein Problem, sondern vor allem brauchbares Kapital. Die nicht anerkannte, nach Moskau ausgerichtete Republik hat bislang keine großen Ressourcen abverlangt und keine Kopfschmerzen verursacht. Der eingefrorene Konflikt war für Russland von Nutzen, da er Moldau vom Abdriften in Richtung Westen abhielt. Noch dazu konnte dieser Konflikt unter bestimmten Umständen auch spürbare geopolitische Gewinne bringen.

2003 hat Russland einen sehr energischen Versuch unternommen, den Transnistrien-Konflikt zu regeln. Chișinău hatte darum gebeten. Diese Bitte war von dem damaligen moldauischen Präsidenten, dem Kommunisten Wladimir Woronin, ausgegangen, der die Vereinigung des Landes anstrebte. Putin ist seinem moldauischen Kollegen entgegengekommen und hat Dmitri Kosak damit beauftragt, damals wie heute der stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung. Unter der Beteiligung von Dmitri Kosak, der die „Pendeldiplomatie“ zwischen Chișinău und Tiraspol betrieben hat, wurde das „Memorandum über die Grundprinzipien des staatlichen Aufbaus eines vereinten Staates“ erarbeitet, das sogenannte „Kosak-Memorandum“. Das Memorandum sah die Transformation Moldaus zu einem föderativen Staat vor, zu dessen Subjekten Gagausien (seit 1994 Teilrepublik) und Transnistrien gehören sollten. Der föderative Staat sollte neutral und völlig entmilitarisiert sein. Das Russische sollte neben dem Moldauischen als Amtssprache gelten. Die russische Seite bestand außerdem auf die anhaltende militärische Präsenz Russlands, vertreten durch „stabilisierende Friedenstruppen“, bis zum Jahr 2020.

Die Vorteile eines solchen Memorandums für Moskau lagen auf der Hand: Erstens hätte Moskau sich nach der Versöhnung Chișinăus und Tiraspols mit den Lorbeeren des Friedenstifters schmücken können. Zweitens hätte Moskau seine Truppen in Moldau behalten können. Drittens hätte die Neutralität Moldau den Weg in die NATO versperrt. Und nicht zuletzt hätte die Vereinigung in der Wählerschaft das Verhältnis zugunsten der prorussischen politischen Kräfte in Moldau verändert. Russlands Einfluss in und auf Moldau wäre somit sehr stark geworden.

Doch diese Idee hat nicht funktioniert. Im letzten Augenblick hat Wladimir Woronin sich geweigert, das von ihm und auch von Igor Smirnov, dem Präsidenten der PMR, paraphierte Memorandum zu unterzeichnen. Danach hat sich das Verhältnis zwischen Moskau und Chișinău für lange Zeit verschlechtert. Der Transnistrien-Konflikt ist ungelöst geblieben und es gab keine ernsthaften Verhandlungen mehr über eine Vereinigung Moldaus.

Ein (un-)komplizierter Konflikt

Der Transnistrien-Konflikt galt immer als der friedlichste unter den postsowjetischen territorialen Bruchstellen, da er weder durch zwischenethnische noch durch religiöse Konflikte befeuert wurde. Verglichen mit den anderen Kriegen im postsowjetischen Raum Anfang der 1990er, gab es zudem kaum Kampfhandlungen. 1992 gelang es, ein Blutvergießen am Dnister zu verhindern. Einzelne teils tödliche Zwischenfälle waren eher tragische Ausnahmen als gängige Praxis.

1992 begann auch die Friedensmission am Dnister, die von russischen, moldauischen und transnistrischen Militärkontingenten gesichert wird, die wiederum unter der Leitung der Vereinigten Kontrollkommission (VKK) stehen. In der Sicherheitszone des Transnistrien-Konflikts gibt es gemeinsame Kontrollposten, an denen sowohl moldauische als auch transnistrische Militärs vertreten sind. Zwischen den beiden Ufern des Dnister gilt für Menschen und Waren relative Bewegungsfreiheit. Die transnistrischen Behörden haben am Dnister Zoll- und Grenzkontrollen eingerichtet, wo die Papiere aller einreisenden Personen und Fahrzeuge kontrolliert werden. Diese Kontrollposten in der Sicherheitszone sind ein Verstoß gegen die Vereinbarung, wonach solche Einrichtungen ohne Genehmigung der VKK nicht gestattet sind.

Trotz solcher Verstöße und politischer sowie geopolitischer Widersprüche haben sich Chișinău und Transnistrien, das sich von der Kontrolle seitens Chișinău losgelöst hat, in über drei Jahrzehnten aneinander „gewöhnt“. Wirtschaftliche, soziale und geschäftliche Verbindungen und Netzwerke sind entstanden. Die politische Ebene ausgenommen, herrschen formelle und informelle, konfliktlose und pragmatische Beziehungen auf allen Ebenen. Die Menschen an beiden Ufern des Dnister haben gelernt, friedlich nebeneinander zu leben, gemeinsam Geld zu verdienen und wurden letzten Endes voneinander abhängig. So kauft Chișinău bei Tiraspol Energie, die vom moldauischen Kraftwerk produziert wird (das Kraftwerk gehört dem russischen Unternehmen Inter RAO). Tiraspol exportiert seine Waren nach Europa und Russland, indem sie als moldauische Produktion deklariert werden. Und das sind nur einige Beispiele.

Man könnte meinen: Wenn nun schon eine solche Nähe erreicht ist, sollte die Vereinigung des Landes eigentlich kein unlösbares Problem mehr darstellen. Es ist jedoch während der drei Jahrzehnte nicht gelungen, eine Formel für eine stabile Regelung zu finden. Und das liegt an inneren wie äußeren Faktoren gleichermaßen. Zu den inneren Faktoren gehört, dass die Seiten, die von diesem Konflikt profitieren, nicht bereit sind, diese Situation zu ändern. Es wäre falsch anzunehmen, dass nur Tiraspol Gewinn daraus zieht. Bekannt sind Fälle, in denen auch Business-Strukturen, die mit den staatlichen Strukturen in Chișinău in Verbindung stehen, Interesse an einem intransparenten System hatten, so zum Beispiel beim Verkauf von Energie.

Das Gleiche gilt auch für auf das Importsystem diverser Waren nach Transnistrien und von da aus weiter an das rechte Dnister-Ufer und in die Ukraine, bei dem es um ein breites Warensortiment geht: Hähnchenkeulen, Zigaretten, Spiritus und Kraftstoff. Ein wichtiger Knotenpunkt für diese Schmuggellogistik waren die Häfen im Gebiet Odessa in der Ukraine. In Transnistrien hat man für die jeweilige Ware entsprechende Dokumente ausgestellt. Anschließend wurde sie mit nur sehr niedrigen oder gleich ganz ohne Zollgebühren in alle Himmelsrichtungen transportiert, da die Vorteile der Freihandelszone der GUS [Gemeinschaft Unabhängiger Staaten; zwischenstaatlicher Organisation, der heute zehn Nachfolgestaaten von Ländern der ehemaligen Sowjetunion angehören. – Anm. d. Red.] genutzt werden konnten. Ein Teil der Ware verblieb auf dem Binnenmarkt in Transnistrien, ein anderer Teil in Moldau oder in der Ukraine. Manchmal hat die Ware, die über das Meer nach Odessa gebracht werden sollte, den Hafen im weiteren Verlauf nicht verlassen hat. Lediglich auf Papier wurde die Fracht verschoben. In anerkannten Staaten ist es schwer, solche wirtschaftlichen Wunder jenseits gültiger Regeln zu vollbringen. Deswegen liegt ein Grund für die Nicht-Anerkennung Transnistriens in der Ware-Geld-Beziehung.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat dieses Geschäft stark beeinträchtigt. Heute betrachtet Kyjiw Transnistrien als ein Gebiet, von dem eine Bedrohung ausgeht, da hier russische Truppen stationiert sind. Inzwischen sind am transnistrischen Teil der moldauisch-ukrainischen Grenze auch ukrainische Truppen konzentriert.

Das Geschäft, das auf der Nicht-Anerkennung Transnistriens basiert, ist allerdings nicht das einzige Hindernis für die Vereinigung des Landes. Transnistrien hat große Betriebe, eigene Machtstrukturen wie Armee, Miliz, Geheimdienst und eine eigene Gesetzgebung. Tiraspol orientiert sich in vielen, darunter auch rechtlichen, Fragen an Moskau und nicht an Chișinău. Für die transnistrischen Eliten ist es vorteilhafter, wenn Transnistrien nicht anerkannte De-facto-Republik ist, als wenn es ein Teil von Moldau wäre, wo es eigene Eliten gibt, die ihre eigenen Interessen und Ansprüche haben. „Diese Institutionen und diese Menschen in einem Staat zu vereinigen, ist ein kompliziertes Anliegen. Und es scheint mir, dass diejenigen, die sagen, dass das alles schnell und einfach getan werden muss, die bestehende Realität außer Acht lassen“, erläuterte William Hill, ehemaliger Leiter der OSZE in Moldau, dem OSTWEST MONITORING. Eine Vereinigung sei zwar nicht unmöglich, aber man müsse dabei gewährleisten, „dass die Eliten vor Ort und die Gesellschaft nicht gekränkt werden und keinen Widerstand leisten“, so Hill.

Die Regierung in Moldau jedenfalls unternimmt keine diplomatischen Bemühungen gegenüber Transnistrien. Chișinău macht keine eigenen Vorschläge zur Lösung des Konflikts, obwohl alle Machthebel in den Händen einer politischen Kraft, der proeuropäischen „Partei der Aktion und Solidarität“ konzentriert sind – ein seltener Fall in der neusten moldauischen Geschichte. Die Gründerin der Partei Maia Sandu ist Präsidentin, die von ihr ins Leben gerufene Partei kontrolliert die Mehrheit im Parlament und hat die Regierung ernannt.

Die Transnistrien-Frage gehört offensichtlich nicht zu den Prioritäten der Regierung, da ihr keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt wird. Auch das ist eine Besonderheit Moldaus. Prowestliche Parteien, die fast immer rechte Parteien sind, ignorieren traditionell das Transnistrien-Thema. [Die Einteilung in „rechte“ und „linke“ Parteien entspricht in Moldau bestimmten Konventionen. Die Partei der Sozialisten beispielsweise, eine linke Partei, wie ihr Name besagt, verteidigt traditionelle Werte und wirkt sehr konservativ. Die regierende Partei „Aktion und Solidarität“, deren Programm für eine linke Partei geeignet wäre, bedient sich einer konservativen Rhetorik und kämpft um die Sympathien einer konservativen Wählerschaft. – Anm. d. Red.] Sie regeln wirtschaftliche Fragen mit Tiraspol, politische Fragen dagegen umgehen sie lieber. Grund dafür, so die verbreitete Meinung, ist wohl die Angst davor, dass sich die moldauische Wahllandschaft im Fall der Vereinigung mit der PMR womöglich nicht zu Gunsten der prowestlichen Parteien verändern könnte.

Eine mögliche Erklärung könnte aber auch sein, dass das Transnistrien-Thema unter denjenigen Wählerinnen und Wählern nicht populär ist, auf die sich die prowestlichen Parteien stützen. Diese Wähler waren immer skeptisch, wenn nicht sogar feindlich gegenüber allem, was mit Russland zu tun hat. Und Russland besteht weiter auf den Sonderstatus von Transnistrien innerhalb Moldaus. Doch dies käme für viele einer Föderalisierung des Landes gleich, die wiederum verschiedene Schwierigkeiten mit sich bringen würde – unter anderem die Notwendigkeit, sich mit den Machthabern in Tiraspol zu einigen.

Zwar war es in Gagausien, einem Gebiet im Süden der Republik, Anfang der 1990er gelungen, den Separatismus zu bekämpfen, indem man die Teilrepublik Gagausien gegründet hat. Doch scheint dieses Beispiel bei weitem nicht allen eine gelungene Formel für die Konfliktlösung zu sein, zumal Gagausien oft mit Chișinău Konflikte hat.

Der Krieg ändert alles

Der russisch-ukrainische Krieg konnte für Transnistrien nicht ohne Folgen bleiben. Anfang 2022 hieß es mitunter, eines der Ziele der „militärischen Spezialoperation“ Russlands sei der Einmarsch in die nicht anerkannte Republik. Würde dies geschehen und würde die moldauisch-ukrainische Grenze zur moldauisch-russischen Grenze, so hätte dies dramatische Konsequenzen für die ganze Konstellation in der Region. In der Folge wären vor allem zwei Szenarien denkbar: Entweder die PMR würde an die schon besetzten südlichen Gebiete der Ukraine angeschlossen. Oder Chișinău würde unter Druck gesetzt und gezwungen, die russischen Bedingungen einer Vereinigung anzunehmen, also die Republik Moldau zur Föderation zu machen. Damit würde sich die politische Ausrichtung Moldaus verschieben: nämlich nach Osten statt nach Westen.

Doch beiden Szenarien sind heute nicht mehr aktuell. Der Widerstand der Ukraine hat nicht nur solche Entwicklungen zunichtegemacht, sondern auch dazu geführt, dass Russland seinen Einfluss auf Moldau ganz und gar verloren hat. „Alles, was vor dem Krieg [Angriffskrieg Russlands. – Anm. d. Red.] die Stabilität Transnistriens als separatistisches Projekt gewährleiste, hat mit Beginn des Krieges seine Aktualität eingebüßt“, erläuterte Moldaus ehemaliger Vize-Ministerpräsident Alexander Flenkja, der für Reintegration zuständig ist, dem OSTWEST MONITORING. „Das betrifft die russische politische Unterstützung und die diplomatische Rückendeckung“. Gleiches könne man auch über die militärische Präsenz Russlands am Dnister sagen, behauptet der Experte: „Im Kontext des andauernden Krieges in der Ukraine stellt das russische Kontingent keine ernstzunehmende Kraft dar und kann die Sicherheit Transnistriens nicht gewährleisten. „Im Gegenteil, es zieht unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich und ist für Kyjiw ein Störfaktor allein durch die Tatsache, dass sich solche Einheiten in seinem,Rücken‘ befinden. Das macht für Transnistrien eher Probleme“, so Flenkja. Ähnlich sieht es auch William Hill: „Russlands Einfluss wird zunehmend schwächer. Das ist für den Kreml natürlich unangenehm. Man versucht zwar Maßnahmen zu ergreifen, um den Einfluss von Moskau in Moldau wiederherzustellen [Russland unterstützt offen die moldauischen Politiker, die die jetzige prowestliche Führung kritisieren. – Anm. d. Red.]. Aber momentan haben die lokalen Politiker die Möglichkeit, Entscheidungen ohne Moskau zu treffen.“

Der Einfluss Kyjiws dagegen ist gestiegen: So klang im letzten Jahr mehrfach an, dass die Ukraine, würde Moldau sie darum bitten, helfen könnte, die Kontrolle über die nicht anerkannte Republik zurückzubekommen. Und obwohl noch nichts in diese Richtung unternommen wurde – ist allein die Tatsache, dass man laut darüber spricht, bemerkenswert.

Und noch etwas hat sich Anfang dieses Jahres ereignet, was man sich vor dem Krieg nicht hätte vorstellen können. Das moldauische Parlament hat Strafgesetzänderungen verabschiedet und einen Artikel über „Separatismus“ im Strafgesetzbuch hinzugefügt. Demnach droht für separatistische Handlungen eine Gefängnisstrafe. Ab jetzt könnte man nach diesem neuen Artikel jeden Beamten aus Transnistrien bestrafen, selbst die Spitze der nicht anerkannten Republik. Chișinău hat es nicht eilig damit, dieses neue Gesetz auch anzuwenden. Aber das Instrument ist da, und das bedeutet, dass es jederzeit angewendet werden könnte. Und die moldauischen Behörden haben diese Strafverfolgung für Separatismus trotz lauter Kritik aus Russland eingeführt. Das zeugt wiederum davon, dass Moskau seinen Einfluss auf Chișinău und auf die gesamte Situation am Dnister verloren hat.

Vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hatten Moldau und Russland auf verschiedenen Ebenen Beziehungen gepflegt. Die Außenminister standen miteinander in Kontakt, es gab auch eine direkte Kommunikation zwischen den Präsidialadministrationen. Nach Beginn des Krieges am 24. Februar 2022 hat Chișinău alle Kontakte auf die diplomatischen Kommunikationskanäle reduziert. Und nicht nur das: Es hat auch seinen Austritt aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) eingeleitet.

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