21 July 2023Georgia

Aushöhlung der Demokratie oder Neuausrichtung der Außenpolitik?

Wie sich die georgische Regierungspartei die Macht sichert. Eine Analyse in zehn Punkten. Von Tamta Mikeladse

by Tamta Mikeladze
Still from documentary Taming the Garden directed by Salomé Jashi. Mira Film, Corso Film, Sakdoc Film. 2021© Courtesy of the author


In diesem Artikel analysiert Tamta Mikeladse, Gründerin der Nichtregierungsorganisation Social Justice Center und Dozentin an der Staatlichen Ilia-Universität, die Machtstruktur der georgischen Regierungspartei Georgischer Traum und das oligarchische System des Parteigründers Bidsina Iwanischwili. Die Juristin und Menschenrechtlerin zeigt den Abstieg Georgiens zu einem hybriden Autoritarismus auf – anhand von zehn Merkmalen der Machtakkumulation und der Aushöhlung der Demokratie.

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Während die Russische Föderation ihren brutalen Krieg in der Ukraine fortführt, sind in Georgien die Veränderungen in der Innen- und Außenpolitik überdeutlich geworden. Gleichzeitig mit den autoritären Tendenzen und Krisen innerhalb des Landes werfen auch negative außenpolitische Entwicklungen die Frage auf, wie stark sich die Regierungspartei Georgischer Traum den EU-Bestrebungen des Landes verpflichtet fühlt. Diese negativen Veränderungen wurden sichtbar, als die Regierungspartei – einst Teil eines Wahlbündnisses – den Höhepunkt der Homogenisierung erreichte und letztendlich an interner Vielfalt und an Gleichgewicht verlor. Dies löste in Fachkreisen und in der Öffentlichkeit die Sorge aus, der Georgische Traum könnte seine demokratische Maske endgültig ablegen.

Die georgische Öffentlichkeit ist zunehmend ernsthaft besorgt über die Entwicklung des Landes. Dies ist Thema auf den Straßen, bei Kundgebungen und Demonstrationen, in Universitäten, Stadtvierteln und Haushalten. Man fragt sich, warum die Regierungspartei täglich EU-Vertreter kritisiert und Verschwörungstheorien über eine „globale Kriegspartei“ (d.h. den Westen) verbreitet, die versuche, Georgien zu militärischen Aktionen gegen Russland zu verleiten. Dabei ist gerade jetzt die langerwartete Chance zum Greifen nahe, Teil einer neuen EU-Erweiterungswelle (zusammen mit der Republik Moldau und der Ukraine) zu werden. Wie ist es da zu rechtfertigen, dass die georgischen Machthaber einen politischen Konflikt mit der ukrainischen Führung austragen, das Handelsvolumen mit Russland verdoppeln und den Flugverkehr wiederaufnehmen? Warum ist die georgische Regierung nicht bereit, die russische Besetzung georgischer Provinzen, den militärischen, politischen und menschlichen Schaden, den Georgien erlitten hat, auf die geopolitische Agenda zu setzen? Warum will sie Russland nicht als Feind bezeichnen, während doch gerade eine neue europäische Sicherheitsarchitektur entsteht? Warum hatte die Regierungspartei ein Gesetz über ausländische Agenten nach russischem Vorbild initiiert, das die Freiheit von Zivilgesllschaft und Medien einzuschränken drohte [die Regierung hat das Gesetzesvorhaben nach massiven Protesten im März 2023 wieder gestoppt – Anm. d. Red.]? Warum hat der georgische Premierminister nur wenige Monate vor der Entscheidung der EU über den Kandidatenstatus für Georgien eine homophobe Erklärung abgegeben? (Und zwar auf der Conservative Political Action Conference in Budapest, auf Einladung von Victor Orban, dem Enfant terrible der EU.) Was kann die georgischen Behörden dazu veranlasst haben, einen konstruktiven Dialog mit der Opposition und der Zivilgesellschaft zu untergraben, statt die zwölf Empfehlungen der Europäischen Kommission umzusetzen, die eine Bedingung für die Gewährung des EU-Kandidatenstatus sind?

Die georgische Gesellschaft hat keine klaren Antworten auf diese Fragen. Manche glauben, der Georgische Traum ziele auf den politischen und wirtschaftlichen Machterhalt ab. Andere meinen, dass die Regierungspartei dem weltweiten Trend zum wachsenden Autoritarismus folgt (der insbesondere auch in Georgiens Nachbarländern Aserbaidschan, Türkei und Russland zu beobachten ist). Andere wiederum erklären diese Entscheidungen mit den geopolitischen Interessen des Georgischen Traums und einer angeblichen Allianz zwischen dem Kreml und Parteigründer Bidsina Iwanischwili, ein Oligarch mit Verbindungen nach Moskau [Iwanischwili ist Gründer und ehemaliger Vorsitzender des Georgischen Traums sowie ehemaliger Premierminister – Anm. d. Red.]. Alle diese Erklärungen sind legitim, stichhaltig – und miteinander verwoben. Der Prozess der europäischen Integration verlangt von der Regierungspartei die Vertiefung der demokratischen Reformen und die Umsetzung einer konsensorientierten Politik. All das ist jedoch unvereinbar mit dem unbedingten Streben des Georgischen Traums nach Machterhalt. Es ist außerdem offensichtlich, dass der Krieg in der Ukraine, die Einführung globaler Wirtschaftssanktionen gegen Russland und die Massenmigration der russischen Mittelschicht nach Georgien neue Möglichkeiten für die Erschließung des russischen Marktes geschaffen haben.

Schaut man Zahlen zur Handelsbeziehung zwischen Georgien und Russland genauer an, so zeigt sich, dass die Importe aus der Russischen Föderation seit dem Beginn der russischen Invasion der Ukraine um 82 % gestiegen sind. Die Importe von Erdölprodukten stiegen um 403 %, gefolgt von Kohle (309 %) und Baumetallen (1493 %). 67 % der russischen Importe fallen unter die Liste der von den USA oder der EU sanktionierten Waren, wobei Erdölprodukte und Erdgas den größten Anteil ausmachen. Die Verfünffachung der Importe von Erdölprodukten geht weit über den Bedarf des georgischen Marktes hinaus und lässt Fachleute vermuten, dass Erdöl unter Umgehung der Sanktionen verkauft wird (Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2023). Zur gleichen Zeit sickerten Gespräche zwischen Grigori Karassin, dem Vorsitzenden des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des russischen Föderationsrates, und Surab Abaschidse, dem Sonderbeauftragten des georgischen Premierministers für Russland, an die georgischen Medien durch: Darin ging es um den Bau eines neuen Verkehrskorridors zwischen Russland und Georgien und um die Verbesserung der Straßeninfrastruktur zwischen Russland und dem Südkaukasus. Doch solche neuen Wirtschaftsinteressen und Geschäfte, die den Krieg in der Ukraine ausnutzen, sind unmoralisch und unethisch. Sie könnten eine Schattenwirtschaft und damit wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland fördern – mit all den politischen Risiken, die daraus folgen. Einige vermuteten, dass Iwanischwili seine russischen Interessen aufgrund der massiven antirussischen Stimmungen in der georgischen Gesellschaft verschleiern musste, dabei aber gleichzeitig prorussische Gruppen unterstützte und eine antiwestliche, konservative Propaganda verbreitete. Doch nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine und der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen kann die Regierungspartei ihre pro-russischen Interessen nicht länger verbergen.

Welches Ziel verfolgt der Georgische Traum? Um diese Frage zu beantworten, braucht es einen vollständigen Einblick in die Praktiken, Instrumente und Techniken, die die Regierungspartei zum Machterhalt einsetzt. Es gibt bisher nur schwache Versuche, die Machtstrukturen der Regierungspartei und ihre informelle, nicht greifbare und oft flüchtige Natur zu analysieren und theoretisch zu beschreiben.

1. Eines der grundlegenden Merkmale des Georgischen Traums ist die Abwesenheit von Entwicklungszielen. Anders als die Regierung nach der Rosenrevolution, die den Anspruch hatte, mit radikalen, schnellen und oft unbedacht schmerzhaften Reformen den Grundstein für einen neuen georgischen Staat zu legen, versprach der Georgische Traum zunächst Stabilität und Pragmatismus. In der Anfangsphase ließ das Wahlbündnis des Georgischen Traums einen gewissen Pluralismus zu, ohne klare ideologische und wertebasierte Ziele zu verfolgen; dadurch war das Wesen und die Grenzen seiner Macht schwer zu verstehen. Diese politische Uneindeutigkeit und eine gewisse Behutsamkeit waren anfangs eine Erleichterung für die georgische Gesellschaft, die der schnellen und forcierten Modernisierung in der Zeit nach der Rosenrevolution müde war. Nach der russischen Invasion in der Ukraine aber startete der Georgische Traum alarmierend schnell und unerwartet Veränderungen, die Anzeichen von demokratischem Rückschritt sowie autoritären Tendenzen aufweisen: Während die Regierungspartei nicht einmal auf rhetorischer Ebene irgendwelche Entwicklungsziele verfolgt, ordnet sie die staatlichen Institutionen immer stärker der Kontrolle der Partei unter. Viele Fachleute befürchten, dass sich die autoritären Tendenzen verstärken, während die politischen und gesellschaftlichen Freiheiten weiter eingeschränkt werden.

2. Das wichtigste Versprechen des Georgischen Traums vor den Wahlen 2012 war, Gewalt abzulehnen und systemische Veränderungen anzustoßen. In der Tat leitete die Regierungspartei zunächst einige institutionelle Verbesserungen ein. Sobald der Georgische Traum jedoch mit seiner ersten Krise konfrontiert wurde, griff die Partei auf die gleichen Instrumente der Machtkonsolidierung und sozialen Kontrolle zurück wie ihre Vorgänger.

3. In den ersten Jahren der Regierung verzichtete der Georgische Traum auf offene Gewalt und setzte stattdessen auf eine sanftere Regierungsführung. Gleichzeitig tolerierte er aber soziale Gewalt und unterstützte politisch und rechtlich konservative und/oder offen prorussische Gruppen, die verschiedene gesellschaftliche Fraktionen (Opposition, Medien, LGBTQ+, religiöse Minderheiten usw.) schikanierten. Heute sind die politischen und sozialen Hassreden und die pro-russische Propaganda dieser Gruppen Teil der offiziellen Rhetorik.

Vor allem reproduziert der Georgische Traum dabei das autoritäre Erbe der vorherigen Regierung: Abbau des gegenseitigen Kontrollsystems; fehlende Machtverteilung und keine Regeln für ein einvernehmliches Vorgehen im Parlament; Etablierung von Clan-Autorität in der Justiz; Politisierung und Straffreiheit in den Strafverfolgungsbehörden; schwache lokale Selbstverwaltungen und ein rigider Top-down-Regierungsstil; unverhohlene Polizeibrutalität bei Kundgebungen und Demonstrationen; massenhafte illegale Überwachung und rechtswidrige Verbreitung von Filmmaterial mit privaten persönlichen Informationen; strenge Kontrolle und gelegentliche „Säuberung“ des öffentlichen Dienstes.

In den letzten zwei Jahren ist die auf Kontrolle und Repression beruhende Regierungspraxis des Georgischen Traums noch intensiver und willkürlicher geworden, – was deutlich auf den Übergang Georgiens von einer hybriden Demokratie zum hybriden Autoritarismus hinweist.

4. Die informelle Regierungsführung und die informellen Einflüsse, die in erster Linie auf Bidsina Iwanischwili zurückzuführen sind, sind zur Norm geworden. Iwanischwili, der als Premierminister kurz nach der Amtsübernahme schon wieder zurücktrat und damit die formale Macht abgab, fungiert seither als eine schemenhafte Übermacht, die im Bedarfsfall zur Deeskalation von Krisen beiträgt. In den letzten Jahren hat der Oligarch jedoch das Vertrauen der Öffentlichkeit verloren. Jetzt liegt er in Meinungsumfragen weit hinter den Spitzenpolitikern und Bürgermeistern seiner Regierung. Auch wenn Iwanischwili weiter einen übermäßigen Einfluss auf die Partei und die staatlichen Institutionen innehat, verfügt er nach dem Verlust seiner quasi-sakralen Autorität nicht mehr über die Möglichkeit, Krisen zu entschärfen. Und die Öffentlichkeit erwartet es auch nicht mehr von ihm. Dieser Vertrauensverlust könnte ein Grund für die wachsende Bereitschaft zu Repressionen sein, die nach wie vor ein Instrument der Regierungspartei zum Erhalt der politischen Macht sind.

5. Das oligarchische System des Georgischen Traums hat die Grenzen zwischen politischen und privaten Interessen so sehr verwischt, dass der Erhalt der politischen Macht inzwischen gleichbedeutend ist mit dem Erhalt des Reichtums. Iwanischwili steht an der Spitze der oligarchischen Pyramide, während andere Personen und Gruppen um politische und wirtschaftliche Macht und Ressourcen kämpfen. Wer außerhalb dieser Pyramide ist, erhält keinen Zugang zu Ressourcen oder wird zum Feind erklärt. Nach der Rosenrevolution bestand die Regierung auf eine scharfe Trennung von Politik und (Markt-)Wirtschaft; dies nahm letztendlich aggressive Formen neoliberaler Experimente an und musste von der Polizei abgesichert werden (zahlreiche Organisationen äußerten Bedenken über die Anzeichen von Elitenkorruption). Die Regierung des Georgischen Traums dagegen wandte sich von diesem Prinzip ab, indem sie das politische System zu einer für postsowjetische Länder typische Struktur zurückführte.

6. Elf Jahre nach ihrer Machtübernahme kämpft die Regierung des Georgischen Traums um massive Zustimmung bei den Wahlen. Das Misstrauen zu vertiefen und die gesellschaftliche wie politische Polarisierung zu fördern, gehört dabei zur wichtigsten Strategie für den Machterhalt. Seit mehreren Jahren versucht der Georgische Traum, alle politischen und quasi-politischen Akteure (Opposition, Medien, zivilgesellschaftliche Organisationen, Aktivistinnen und Aktivisten) zu delegitimieren, – damit sich das Vertrauen in diese Akteure nicht festigt. Für die Regierungspartei ist es entscheidend, den Status quo der Stimmenverteilung zu erhalten: Laut einer Umfrage des Caucasus Research Resource Center (CRRC) stimmen 25 % der Bevölkerung in jedem Fall für den Georgischen Traum und nur 10 % für die Opposition. 62 % weigern sich, eine Partei zu nennen. Die Meinungsumfragen der vergangenen Jahre haben, wenn überhaupt, nur geringe Unterschiede in den Prioritäten, den geopolitischen Einstellungen und Werten der Wählerinnen und Wähler von Regierung und Opposition gezeigt. Laut einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie aus dem Jahr 2021 stimmten die Ansichten des Georgischen Traums und die der Mitte-links-Partei Vereinte Nationale Bewegung bei 15 von 30 Umfragepunkten überein. Dieses Ergebnis deuten einigen Experten als affektive Top-down-Polarisierung. Diese voranschreitende Strategie funktioniert und hat inzwischen ihren Tribut gefordert: Die Polarisierung ist auf allen gesellschaftlichen Ebenen spürbar.

7. Der Georgische Traum instrumentalisiert soziale Verwundbarkeit und Armut. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger ist von 2011 bis 2022 um 65 % gestiegen. Bis 2022 waren 680.000 Personen – 18 % der Gesamtbevölkerung – als Begünstigte registriert. Das Budget für das Programm stieg von 270 auf 609 Millionen GEL im Jahr 2022. Nur wenige Familien steigen aus dem Sozialhilfesystem aus, weil sie ihre soziale Stellung verbessern konnten. 2022 startete die Regierung ein neues Beschäftigungsprogramm für sozial schwache Bevölkerungsgruppen. Das Budget für dieses Programm hat sich seitdem verdoppelt. Auch die Zahl der Bürgerinnen und Bürger, die auf die Unterstützung des Staates angewiesen sind, ist gestiegen. Doch die Entscheidungen darüber, wer an den Sozialhilfeprogrammen teilhaben darf, haben oft einen politischen Charakter. Gerade Menschen in den Regionen beschwerten sich darüber, dass sie an öffentlichen Versammlungen und anderen Prozessen nicht teilnehmen können, aus Angst, ihre Familien würden deswegen möglicherweise aus dem Sozialhilfeprogramm ausgeschlossen. Die rasche Abwanderung politisch aktiver Bürgerinnen und Bürger aus dem Land (abgesehen von der Zeit der Pandemie war die Migrationsbilanz in den letzten zehn Jahren durchweg negativ) ist ein weiterer entscheidender Faktor. Als Antwort auf drängende soziale Fragen nutzt die Regierung daher laufende Sozialprogramme – statt systemischer Ansätze zur Überwindung der Armut einzuführen (wie hochwertige Dienstleistungen, Mindestlohn, Arbeitslosenversicherung, Familienbeihilfen usw.). So werden diese Programme zu einem Instrument der sozialen Kontrolle und Entmündigung der Bürger. Der Paternalismus des Georgischen Traums ist politisch; wie ein unausgesprochener Gesellschaftsvertrag hilft er der Regierung, die politische Autonomie und Freiheit der Bevölkerung zu untergraben.

8. Um das aktive Potenzial der Wählerschaft grundsätzlich zu erschüttern und zu untergraben, instrumentalisiert die Regierung des Georgischen Traums immer wieder die Traumata und Ängste im Zusammenhang mit Krieg und bewaffneten Konflikten. Der Krieg in der Ukraine hat die Erinnerung an Kriegstraumata in der georgischen Gesellschaft wiederbelebt und alte Wunden aufgerissen. Seit dem Beginn der russischen Invasion im Jahre 2022 sind die sozialen Netzwerke voller Geschichten von Flüchtlingen, ihrer Not, ihrem Schmerz, ihren Verlusten und unauslöschlichen Schäden. Der Georgische Traum hat begonnen, diese Wunden zu instrumentalisieren. Die Kernbotschaft der Regierungspartei lautet seit fast einem Jahr: Es gebe ein globales Interesse, Georgien in den Krieg zu „involvieren“, und der Georgische Traum sei die einzige Kraft, die den Frieden im Land sichern könne. Dafür brauche man eine pragmatische Politik und eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland. Die Regierung behauptet, Frieden zu garantieren. Diese Behauptung ist peinlich und realitätsverzerrend in einem Land, in dem es im Alltag keinen Frieden gibt, in dem die russischen Besatzungstruppen Dutzende von georgischen Bürgerinnen und Bürgern in den Dörfern entlang der Trennungslinie bewachen, in dem der Prozess neuer „Grenzziehungen“ weitergeht, in dem immer weitere Orte der russischen Kontrolle unterworfen werden und in dem ethnische Georgierinnen und Georgier unter einer permanenten humanitären Krise leiden.

9. Die Instrumentalisierung konservativer Gefühle.
Für den Machterhalt nutzt die Regierungspartei aktiv die Unterstützung der georgisch-orthodoxen Kirche und propagiert politische Homophobie, oft mit geopolitischen Anspielungen. Die orthodoxe Kirche, die in der jüngsten Vergangenheit im verfeindeten politischen Umfeld vermittelte, hat sich inzwischen zu einer offen regierungstreuen Institution entwickelt. Dieser Rollenwandel lässt sich auf den ersten Blick durch Krisen innerhalb der Kirche und durch die vermeintlich natürliche Affinität der Kirchenführung zum konservativen Populismus des Georgischen Traums erklären. Ein tieferer Grund könnte jedoch in den harten Kontrollmechanismen liegen, die die Regierung gegenüber der georgisch-orthodoxen Kirche einsetzt. Geleakte Informationen deuten vor zwei Jahren darauf hin, dass der Inlandsgeheimdienst routinemäßig die persönliche Kommunikation des Klerus überwacht, abgehört und unrechtmäßig gespeichert hat, was effektiv als Druckmittel und Kontrollinstrument eingesetzt wurde.

10. Der konservative, antiliberale Populismus des Georgischen Traums folgt dem Muster der anderer zeitgenössischer autoritärer Regime. Er basiert auf der Logik der Mehrheitsillusion und ist im Wesentlichen antipluralistisch. Wer die Behörden kritisiert, wird als Feind des Staates und der Kirche abgestempelt, als Extremist, der keinen Respekt und keine politische Existenz verdient. Die Gegner werden so sehr dämonisiert, dass es inzwischen zu gewalttätigen Übergriffen, Einschüchterung und gar zum Tod kommt. Der Regierung ist es gelungen, Ängste, Affekte und Ressentiments zu mobilisieren und sie in die eigene Propaganda einfließen zu lassen. Auch das Medien- und Werbemonopol nutzt sie, um die Massen zu beeinflussen. Aktuelle quantitative Studien legen nahe, dass diejenigen, die für die amtierende Regierung stimmen, stärker polarisiert sind. Laut den Ergebnissen der CRRC-Umfrage von 2023 findet die Regierungspartei die meiste Unterstützung bei älteren und religiösen Menschen in ländlichen Gebieten und bei Angestellten des öffentlichen Sektors. Im Gegensatz dazu verfügen die Anhänger der Oppositionsparteien über ein höheres Bildungsniveau, sind arbeitslos oder in der Privatwirtschaft tätig. Personen ohne jede Parteibindung wohnen hauptsächlich in Tbilissi, sind jünger und nicht religiös. Daher scheint die populistisch-konservative Sprache des Georgischen Traums eine Strategie, um die Wahlunterstützung und die Macht zu erhalten.

Das politische System des Georgischen Traums lässt sich zweifellos als hybrider Autoritarismus bezeichnen. Dieser beruht auf der Logik der Machtkonsolidierung, der politischen Akkumulation wirtschaftlicher Ressourcen und auf Populismus. Die Struktur der Regierungsgewalt nimmt aufgrund einer Fülle informeller Einflüsse eine Form von Patromonialismus an – mit katastrophalen Folgen nicht nur für die Demokratie und die institutionelle Politik, sondern auch für die immer schwächer und kleiner werdende öffentliche Sphäre, die politischen Freiheiten und die bürgerliche Selbstorganisation. Eine neue Welle populistischer Rhetorik wiederholt oft die Sprache und Logik zeitgenössischer autoritärer Regime, die sich auf anti-elitäre und anti-pluralistische Gefühle stützen und sich als die wahren und exklusiven Vertreter einer Mehrheit positionieren. Diese Rhetorik überschattet und verdeckt jedoch das Legitimationsproblem der Regierungspartei, deren Politik im Konflikt steht zu den wirtschaftlichen sowie geopolitischen (euro-atlantischen) Interessen von 80 % der georgischen Bevölkerung.

Offen bleibt die eingangs aufgeworfene Frage, ob die negativen Trends der letzten Jahre der politischen Krise und dem Streben nach Machterhalt geschuldet sind – oder den Veränderungen in der Außenpolitik. Denn eine Kette von Ursachen, Einflussfaktoren und Konsequenzen droht der Beobachterin zu entgleiten und sich im Labyrinth der informellen Politik zu verlieren. Doch auch ohne irgendwelche Kausalzusammenhänge ist es offensichtlich, dass die Folgen dieser Veränderungen für die fragile georgische Staatlichkeit verheerend sind: Sie haben die Demokratie ausgehöhlt und könnten die politische Geografie des Landes verändern, – wenn die georgische Gesellschaft die Dinge nicht selbst in die Hand nimmt und diesen Prozess endlich aufhält.

Aus dem Englischen übersetzt von Pavel Sirotkin

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