4 September 2023Moldova

Ein unbequemer Blick auf uns selbst

Nicoleta Esinencu über die unangenehme moldauische Realität, die gern ignoriert wird

by Nicoleta Esinencu
Nicoleta Esinencu (centre) with the theatre collective Spălătorie© teatru-spălătorie


In Moldau kann eine Regierung prowestlich oder prorussisch sein, doch merkwürdigerweise nicht promoldauisch. Seit Jahrzehnten kochen politische und geopolitische Leidenschaften hoch, aber gerade sie verhindern eine Diskussion der eigentlichen Probleme, die hunderttausende Menschen betreffen. Stimmen, die beharrlich über diese Probleme sprechen, erklingen zwar, aber sie werden nicht gehört. Zu ihnen gehört auch die der Theaterregisseurin Nicoleta Esinencu. Das von ihr gegründete politische Theater Spălătorie wird in der EU mit renommierten Preisen ausgezeichnet, während es in der Heimat nicht einmal eigene Proberäume hat. Für OWM hat Nicoleta Esinencu beschrieben, wie sie das gegenwärtige Moldau sieht.

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2023 wird die moldauische Unabhängigkeit 32 Jahre alt. Das ist ein Alter, in dem man einige Dinge über sich selbst begriffen haben könnte. Und über sein Land. Aber leider zeigt sich derzeit vor allem, dass Moldau nicht selbstständig leben möchte. Immer braucht es jemanden, der ihm sagt oder vormacht, wie es leben soll. Wir selbst jedoch schaffen es nicht, zu artikulieren, was wir wollen und was unsere Ziele sind.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion maß man dieser Frage keine Bedeutung bei. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass überhaupt nicht darüber gesprochen wurde. Niemand fragte: Dürfen wir vielleicht selbst entscheiden, wie wir leben wollen? Wie wäre es, wenn nicht ständig Leute aus dem Osten oder Westen zu uns kommen, um uns zu erklären, wie wir leben sollen? Wie wäre es, wenn wir nicht von allen möglichen Leuten Geld annehmen, das wir später zurückgeben müssen? Wie wäre es, wenn wir nicht nur auf Pump leben?

In der modernen Welt, und insbesondere in letzter Zeit, ist es Mode über Dekolonisierung zu sprechen. In Europa, und überhaupt im Westen spricht man sehr gern darüber, weil man entdeckt hat, dass es jemanden gibt, der schlimmer ist als man selbst: nämlich Russland. Es ist ein beliebtes Thema, aber es findet keine ernsthafte Debatte statt.

Für mich klingt das wie: Lasst uns über Dekolonisierung reden, aber nicht über uns. Als gäbe es in der Geschichte jene Zeit nicht, in der der Westen die halbe Welt kolonisiert hatte. Man nimmt gern an, der Westen hätte dieses Problem gelöst, die hässlichen Aspekte der eigenen Geschichte aufgearbeitet. Und wenn sein eigenes Problem gelöst hat, kann man ja über die Probleme der anderen sprechen. Zum Beispiel über Russland oder darüber, wie die Menschen in Osteuropa ihre Probleme lösen sollen.

Aber Moment mal, ich habe da noch ein paar Fragen. Wie habt ihr das Problem gelöst? Habt ihr zurückgegeben, was ihr weggenommen hattet? Habt ihr aufgehört, auf uns herabzublicken und euch für etwas Besseres zu halten? Habt ihr in euren Schulbüchern und Museen, in eurer Literatur und Politik andere Perspektiven aufgeworfen? Natürlich nicht! Auch eure Vergangenheit muss erst noch aufgearbeitet werden. Und was uns betrifft, so überlasst uns doch das Recht, selbst zu entscheiden, wie wir mit der Kolonialisierung/ Dekolonialisierung unserer Länder und dem Imperialismus im Osten umgehen – das ist unsere Geschichte.

Deutschland oder Frankreich würde es wohl kaum gefallen, wenn die USA ihnen diktieren würden, wie sie mit ihrer Vergangenheit, ihrer Geschichte umgehen sollen. Auch uns gefällt es nicht, wenn uns jemand von oben herab darüber belehrt, was wir tun sollen. Ganz egal wer – seien es die USA, Russland, die EU oder die Weltbank. Obwohl „wir“ vielleicht zu viel gesagt ist. Dann rede ich eben nur für mich: MIR gefällt das nicht.

Heute gibt es den Begriff der Dekolonialisierung, er wird viel verwendet, alle reden über Dekolonialisierung – aber was heißt das? Heißt es nun, dass Menschen selbst über ihr Schicksal entscheiden dürfen oder nicht? Das ist eine einfache Frage. Aber es gibt keine Antwort.

Auch nicht von der moldauischen Politik. In Moldau sind wir es gewohnt, dass wir bei Wahlen immer gegen etwas stimmen – wir sind nicht für bestimmte Werte, sondern gegen bestimmte Personen. Auf dem politischen Menü stehen zwei Sorten Mist zur Auswahl und wir müssen überlegen, welcher weniger stinkt. Aber Moment mal, dürfen wir vielleicht auch Werte haben? Oder müssen wir uns immer nur das geringere Übel wählen?

Heute leben wir in einem Staat, in dem man die Regierung nicht kritisieren darf. Unsere Regierung ist proeuropäisch. Aber Kritik duldet sie nicht. Als die Politikerinnen und Politiker, die heute in bequemen Sesseln und Büros mit hohen Decken sitzen, noch um die Macht kämpften und ihre Wahlkampagnen führten, vergaßen sie uns Wählerinnen und Wählern zu sagen, dass sie Kritik nicht mögen oder, genauer gesagt, gar nicht ertragen können. Sie sind so empfindlich, dass man ihnen überhaupt nichts Negatives sagen kann.

Gleichzeitig sprechen sie von europäischen Werten. Und es entsteht ein großer Widerspruch, der weitere Fragen nach sich zieht. Welche Werte meint ihr denn, ihr Lieben? Was wisst ihr über sie? Wie passen sie mit der Ausbeutung von Arbeitsmigrantinnen und -migranten im Westen zusammen? Oder mit den Flüchtlingen, die man im Mittelmeer ertrinken lässt? Oder ist das jener Teil der Geschichte, über den man nicht spricht, weil er ein schlechtes Licht auf euch wirft? Dann ist es wie mit dem Holocaust. In Moldau, wo es ihn gab, genau wie es in der Sowjetunion Deportationen gab, ist es bequemer und vorteilhafter über die Deportationen zu sprechen. Aber entschuldigt mal, das eine hebt das andere nicht auf. Wir müssen über alles sprechen, ob es uns gefällt oder nicht. Wir können den unbequemen Teil nicht ignorieren.

Als unser Theater das Stück Clear Story über den Holocaust auf dem Gebiet von Bessarabien auf die Bühne brachte, konnte ich beobachten, wie geschockt das Publikum war. Junge Menschen verließen die Vorstellung mit den Worten: „Das ist ja im Dorf meiner Großmutter passiert, und mir hat nie jemand etwas davon erzählt.“ Gleichzeitig halten sie General Ion Antonescu für einen Helden. In unseren Schulbüchern steht nach wie vor, er sei eine ambivalente Figur gewesen. Nach wie vor heißt es, rumänische Truppen hätten im Zweiten Weltkrieg Gebiete Moldaus befreit. Ist euch klar, dass uns Faschisten befreit haben? Mir scheint, das sind sehr einfache Dinge, die keinen Raum lassen für Interpretation. Oder doch?

Unser Theater ist politisch. Politik ist das, was unser Leben formt, mir persönlich ist sie sehr wichtig. Ignoriert man als moderner Mensch die Politik, tut man so, als wäre man nicht Teil dieser Gesellschaft. Aber die unbequemen Fragen holen einen trotzdem ein. Man kann unliebsame Aspekte der Vergangenheit nicht einfach ausradieren. So radiert man aus Versehen noch sich selbst, die Geschichte der eigenen Eltern und im Endeffekt auch des ganzen Landes aus.

Heute betreffen die unbequemen Fragen die Vergangenheit und die Gegenwart (über die Zukunft streitet man leider fast gar nicht). Sie stellen sich noch schärfer und schneiden uns wie eine Rasierklinge. Der Krieg tobt buchstäblich am anderen Ufer, selbstverständlich hat das Auswirkungen auf uns. Wir haben aufgehört, für den Frieden zu kämpfen, über den Frieden zu sprechen – wir sprechen nur noch über Waffen. Wir leben in Zeiten, in denen der Frieden nicht en vogue ist. Wir schauen dem Krieg von der Couch aus zu, als wäre er ein Computerspiel wie Counter-Strike. Und dabei sterben, töten, fliehen Menschen … Es ist kein Spiel, es ist die Wirklichkeit … Krieg heißt auch Geld, für manche ist er ein Geschäft. Es gibt keine ernsthafte Diskussion darüber, wie der Krieg beendet werden soll.

Unsere gespaltene Gesellschaft spaltet sich ein weiteres Mal: aus eigenen Stücken oder mithilfe von Politikerinnen und Politikern. Eigentlich müssten wir längst verstanden haben, dass wir hier sehr durchmischt sind. Anfang des letzten Jahrhunderts bestand die Stadtbevölkerung in Chişinău zu mehr als 40 Prozent aus Juden. Meine Mutter kommt aus einer ukrainischen Familie, mein Vater aus einer moldauischen. Aber anstatt die Überschneidung der Kulturen, die Verflechtung der Sprachen als unseren Reichtum zu begreifen, bevorzugen wir Trennung und Abgrenzung.

Plötzlich erklingt ein längst vergessen geglaubter Vorwurf: „Warum sprichst du kein Rumänisch?!“ Ich hätte nicht gedacht, dass wir immer noch in dieser Sprachfalle stecken. Ein Nationalismus, der Schritt für Schritt auf einer ethnischen Grundlage entsteht. Wenn du als Russe einem Moldauer erklärst, wie er zu leben hat, und umgekehrt .

Die Hälfte der Bevölkerung der Republik Moldau, wenn nicht sogar mehr als die Hälfte, ist ausgewandert. Sie sind Migranten. Und Moldau ist nur deswegen noch nicht den Bach heruntergegangen, weil sie woanders schuften und das Geld hierher schicken. Wir haben zwei Stücke über moldauische Migrantinnen und Migranten inszeniert. Wir taten es im Westen, in Deutschland. Dem Stück liegen dutzende Interviews mit Moldauerinnen und Moldauern zugrunde, die im Ausland arbeiten: in Deutschland, Italien, Großbritannien, Frankreich.

In Moldau hat jede und jeder einen Verwandten oder Bekannten, der im Ausland Geld verdient. Ich weiß aus erster Hand, wie moldauische Migrantinnen und Migranten in Europa leben, arbeiten und sterben. Die Menschen sterben früh. Sie werden krank und sterben wegen der harten Arbeit. Und diejenigen, die im Sarg zurückkehren, werden immer jünger. Es sind immer öfter Leute unter dreißig. Größtenteils arbeiten sie unter sehr schweren Bedingungen. Ihre Freizeit besteht aus Billigbier – sie trinken, um sich für eine Weile zu vergessen, und am nächsten Morgen wird weitergeschuftet. Sie sind Zombies. Die Geschichten habe ich mir nicht ausgedacht. Jeder kennt sie. Das nennt man moderne Sklaverei.

Diese Migranten fallen der moldauischen Regierung immer für eine kurze Zeit vor den Wahlen ein. Dann hören wir Dinge wie: „Unsere Diaspora ist unser Stolz!“ Dann hören wir „Erfolgsgeschichten“. Welche Erfolgsgeschichten? Welcher Stolz? Die überwältigende Mehrheit derer, die im Ausland arbeiten, wird weder dort noch in der Heimat eine Rente haben. Wen interessiert es, was morgen mit ihnen passiert? Wenn sie nicht mehr arbeiten können? Es gibt kein Gesetz, das sie schützt – und es kümmert niemanden.

Wir wollten ein Theater über Menschen machen. Ein Theater, bei dem der Mensch mit seinen Problemen im Mittelpunkt steht. Und das tun wir. 2010 haben wir das Theater Spălătorie gegründet. In den Räumlichkeiten, die wir dafür gefunden hatten, war früher eine Wäscherei (rumänisch: spălătorie) und wir haben beschlossen, dass so auch der Name für unser Theater lauten soll. Wir bekamen fast keine staatliche Förderung dafür. Wir haben selbst Mittel eingeworben und uns Geld geliehen. Irgendwann fuhren wir mit unseren Stücken nach Deutschland.

Heute ist unsere Hauptbühne in Deutschland. Offensichtlich interessiert das deutsche Publikum, was wir machen. Das Publikum in unserer Heimat interessiert es nicht. In Chişinău haben wir schon lange keinen Ort zum Proben oder um unsere Stücke aufzuführen. Wieso? Ich vermute, weil man dort ein Theater wie unseres nicht braucht. Wir sprechen zu viel über Rechte, die man gern verletzt: Frauenrechte, Rechte von LGBTQ-Menschen, Rechte der Schwachen, Arbeitsrechte. Wir sprechen über unbequeme Themen und über unangenehme Aspekte unserer Geschichte.

Es ist wohl besser ohne Leute wie uns – eine andere Begründung fällt mir nicht ein. Aber es gibt uns. Genau wie es die Menschen gibt, über die wir nicht aufhören werden zu sprechen. Macht euch darauf gefasst!

Aus dem Russischen übersetzt von Maria Rajer

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