8 September 2023Belarus

Unter vier Augen mit Leviathan

Eine belarussische Schriftstellerin über 300 Jahre Meinungsunfreiheit

by Dudka B.
© mus4getes


Autorinnen und Autoren aus Belarus unterzeichnen ihre Texte heutzutage oftmals mit einem Pseudonym oder einem Kryptonym. Denn in der Republik Belarus zu leben und darüber zu schreiben, ist äußerst gefährlich. Trotzdem bitten wir bekannte Autorinnen und Autoren darum, in der Ich-Form zu schreiben, und manche e sind damit einverstanden. Diesmal stellten wir einer von ihnen die Frage, wie es sich anfühlt, in einem totalitären Regime, das gegen seine Gegnerinnen und Gegner hart vorgeht, zu reflektieren und zu schreiben.

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War es denn jemals anders?

Eine besondere Art belarussischer Coolness besteht darin, ein geheimes Treffen auf einer Bank gegenüber der Polizeistation zu vereinbaren — oder in einem kleinen Park, der von der Polizei sorgfältig überwacht wird. Obwohl zurzeit sowieso jeder Ort, wo man Lust hätte, sich persönlich zu treffen, gegenüber einer Polizeistation, auf einer Patrouille-Route oder unter dem aufmerksamen Blick eines Informanten-Nachbarn liegt. Trotzdem treffen wir uns immer wieder persönlich — wir Bruchstücke der Zivilgesellschaft, eine kleine Gruppe im Land Gebliebener — obwohl wir uns zum Beispiel auch auf Zoom oder Google Meet sehen könnten, wo wir scheinbar nichts riskieren würden. Doch wir treffen uns auf den Straßen, um miteinander zu reden. Und ich denke jedes Mal: Das bedeutet, dass wir unsere Stadt nicht aufgeben.

Nach jedem dieser Treffen nehme ich das gleiche Gefühl mit: Niemand wird diese kleinen, ganz unscheinbaren Geschichten einzelner Menschen jemals erzählen. In den heldenhaften Legenden der Zukunft werden sie unmöglich einen Platz finden. Menschen, die aus letzter Kraft und durch ihre bloße Existenz nur einer einzigen Beschäftigung nachgingen: gegen die totale Entropie des Bösen zu kämpfen — indem sie atmeten, ziellos durch Straßen und Parks irrten, auf Bänken vor der Polizeistation saßen, bei Spendenaufrufen lächerliche Summen sammelten, um Geldstrafen für ihre Bekannten zu bezahlen, im August 2020 ihre Touren durch die geheimen Kneipen machten, die nur für Freunde offen waren. „Und was habt ihr für den Sieg getan?“, werden uns die Sieger streng fragen, und wir werden ihnen nichts antworten können, was unser Leben im doppelt besetzten Land rechtfertigen könnte. Wir werden doch wohl kaum über Parkbänke berichten, oder?

Eigentlich hatte die belarussische Kultur noch nie unter anderen Bedingungen existiert. Der erste und der letzte Autor, der den totalitären Druck eines mächtigen fremden Staates nicht kannte, war wohl Franсisk Skorina, der erste ostslawische Buchdrucker. Im Jahr 1517 druckte er den Psalter auf Altbelarussisch und brachte das Buchdruckgewerbe Iwan Fjodorow und Pjotr Mstislawets bei, die anschließend in den Nachbarländern zu den ersten Buchdruckern wurden. Allerdings betrieb Skorina das alles von Prag aus.

Ein Land zwischen Ost und West, das ausnahmslos von allen Kriegen überrollt wurde, die unsere Nachbarn sich gegenseitig über unsere Köpfe hinweg erklärten, ein Land, in dessen Mitte sowohl die messianische Offensive der Römischen Kirche nach Osten als auch die messianische Offensive der Orthodoxen Kirche nach Westen feststeckte. Unser Territorium war schon immer Kriegsschauplatz, der von fremden Interessen bestimmt wurde, ein Zufluchtsort für diejenigen, die nicht vor uns geflohen waren, und ein Friedhof für diejenigen, die wir nicht getötet hatten. Die Nachkommen der Tataren, die sich vor langer Zeit von den kriegerischen Überfällen abgewandt und sich friedlich am Rand der „tatarisch-mongolischen“ Eroberungen niedergelassen hatten, leben bis heute bei uns und beten in unseren Moscheen. Ebenso fanden hier Hunderttausende Juden ihr Zuhause, die vom Russischen Kaiserreich in den „Ansiedlungsrayon“ verdrängt worden waren — und hunderttausende Juden, die aus ganz Europa in das Minsker Ghetto gebracht worden waren, haben hier ihre ewige Ruhe gefunden.

Belarus ist das einzige Land der Welt, in dem Jiddisch neben Belarussisch, Russisch und Polnisch eine der Staatssprachen war (1921 bis 1938). Diese Sprachen bleiben heute noch die „Arbeitssprachen“ der Denkmäler auf unseren Friedhöfen. Wir feiern nicht ausnahmsweise, sondern in der Regel zweimal Weihnachten und dreimal Ostern, auch in kleinen Städten gibt es jeweils eine katholische und eine orthodoxe Kirche, und in den großen Städten außerdem noch Synagogen und Moscheen. Wenn Sie ein Land suchen, das möglichst tolerant gegenüber den „Anderen“ ist, dann kommen Sie nach Belarus.

Es ist nicht einfach, in der Atmosphäre einer so allumfassenden Toleranz zu existieren: Die kulturelle Expansion der Völker, die kriegerischer und weniger tolerant sind als wir, ist zum Erfolg verurteilt. Welche Imperien uns auch überfielen, sie sahen es stets auf unsere Sprache und unsere Kultur ab. Während der letzten Jahrhunderte existierte die belarussische Sprache unter totalitären Bedingungen: zuerst das russische Imperium, dann die UdSSR und nun der doppelte Druck eines sterbenden Imperiums einerseits und unserer eigenen imperialen Nachahmer andererseits. Wenn Sie mit Menschen sprechen möchten, die die längste Erfahrung damit haben, eine nationale Kultur zwischen zwei Betonplatten zu entwickeln, dann kommen Sie nach Belarus.

Wenn wir über das Schicksal unserer Kultur nachdenken, kramen wir endlos in unserem Familiensilber: die zerschlagenen geheimen Studentenvereinigungen der Philomaten und der Philareten an der Universität Wilna, die als erste begannen, die belarussische Folklore systematisch zu studieren; der gehängte Kastus Kalinouski [belarussischer und polnischer Freiheitskämpfer und Nationalheld, 1838 — 1864 — Anm. d. Ü.], der erste belarussischsprachige Publizist, die „hingerichtete Generation“ der Kulturschaffenden der Zwischenkriegszeit, die innerhalb weniger Jahren für Belarus alle möglichen Kunstformen in ihrer ganzen modernen Vielfalt schuf. Wassil Bykau, Ales Adamowitsch und Rygor Baradulin, die in die Schraubzwinge der Zensur eingespannt wurden, Uladsimir Njakljajeu, der von der OMON [Spezialeinheiten der belarussischen Miliz — Anm. d. Ü.] zusammengeschlagen wurde. Unsere Dichterin Larysa Geniusch verbrachte acht Jahre im Gulag und lebte danach ihr ganzes Leben in dem Dorf Selwa ohne Pass, da sie die sowjetische Staatsbürgerschaft konsequent ablehnte. Wann immer wir auf Belarussisch schreiben, tun wir das zwischen den Zähnen eines Monsters. Manchmal hat jemand das Glück, irgendwo in der Backe des Monsters eine kleine Pause einzulegen, und manchmal hört das Monster für eine Weile auf, unsere Knochen zu zermalmen — auch das Monster braucht mal eine Pause.

Oh, wie die belarussische Kultur dann aufblüht! Wie aus dem Nichts kommen plötzlich Künstlerinnen und Künstler, Musiker, Musikerinnen, Dichter, Dichterinnen, Autorinnen und Autoren — und sie sind alle echt. (Allerdings schafft die große Welt es kaum, von ihnen zu erfahren, da das Monster nur kurz schläft und die große Welt sich nicht allzu sehr dafür interessiert, wer da irgendwo in der Ecke den Mund aufmacht.) Solche Phasen einer relativen Freiheit unserer Kultur lassen sich buchstäblich in Jahren benennen: 1911 bis 1917, 1921 bis 1929, 1985 bis 1994, 2015 bis 2020. Das war’s. Dabei werden auch in diesen Phasen Menschen verhaftet und verbannt, es werden Verlage durchsucht und geschlossen, Zeitschriften zerschlagen — nur findet das alles im „Light“-Modus statt.

Wenn Sie mich daher fragen, wie es so ist, in einem totalitären Staat zu schreiben, werde ich als Kind meiner Heimat antworten: „Wieso, geht es etwa auch anders?“ Und wenn ich mich mit meinen Gleichgesinnten in der besetzten Stadt treffe, tue ich nichts weiter, als in die Fußstapfen meiner Vorgänger zu treten.

Wie lebt man unter diesen Bedingungen? Vier Strategien

Natürlich hat das 21. Jahrhundert seine Vorteile. Wir werden bis jetzt nicht massenweise erschossen. Nicht mal jetzt — während sie uns Jobs wegnehmen, uns jede öffentliche Tätigkeit verbieten, unsere kleinen Verlage schließen, wo unsere Bücher auch in besseren Zeiten in Auflagen von 100 Exemplaren gedruckt wurden (500 — für die allerbesten, für deren Autogramm man anstehen musste) — nicht mal jetzt zwingen sie uns, Lobeshymnen auf den großen Führer zu schreiben. Niemand zwingt uns in die Knie, wie noch im Stalinismus. Wer nicht schreiben will, soll schweigen. Schweige einfach, dann wirst du glücklich sein. Und außerdem haben wir auch die Möglichkeit, uns zwar nur im Ausland, nur unter Pseudonym, aber immerhin zu äußern. Natürlich können wir uns, wie vor hundert, zweihundert Jahren, kein großes Epos und lange Poeme leisten, weil wir jeden Morgen auf unsere Verhaftung warten — da ist man, ehrlich gesagt, etwas unentspannt. Aber ein Gedicht, eine Kurzgeschichte, eine Übersetzung, sie sind innerhalb eines Tages schnell geschrieben: Einfach die Zeit nutzen, solange sie noch nicht kommen, um uns zu holen. Wir hungern nicht, sitzen nicht im Luftschutzkeller, unsere Kinder schlafen in ihren gemütlichen Bettchen, und wir selbst liegen nachts zwar schlaflos und zur Decke starrend wach, aber immerhin im Bett und nicht auf Steinen.

Doch jedes Wort fällt uns unheimlich schwer. Die Kluft zwischen dem, was ich gerne schreiben würde, und dem, was ich schreibe, kommt mir manchmal unüberwindlich vor.

Wenn ich darüber reflektiere, was mich daran hindert, in Gedanken und Worten wirklich frei zu sein, sind das nicht die Zensur, die Propagandisten, die verdammte Regierung und der verhasste Gewaltapparat. Ehrlich gesagt geht es nicht um sie. Doch auch wenn ich nur für mich schreibe, ohne an sie zu denken, schreibe ich nicht frei.

Ich glaube, der Punkt ist, dass ich im Inneren des Bösen sitze, das mich verschlungen hat. Ich kann nicht über die Größe, die Umrisse und das Verhalten von Leviathan reflektieren, solange ich in seinem Inneren von einer Seite auf die andere geworfen werde. Ich kann mich nicht mal dem biblischen Weinen oder den alttestamentarischen Gebeten hingeben, wie Jona sie im Bauch des großen Fisches praktizierte, den Gott ihm geschickt hatte. Gott schickt Auserwählten besondere Walfische, doch wer schickt uns unsere Leviathans?

Kultur ist das Nachdenken der Menschheit: In kulturellen Prozessen analysieren, reflektieren, hinterfragen wir, versuchen zu verstehen, heben das Wesentliche hervor, bilden einen Diskurs, reflektieren das Imaginäre, träumen vom Nichtexistenten. Auf diesem endlosen Weg hat jeder eine große Bandbreite an Verantwortlichkeiten, Interessen und Möglichkeiten. Der Generationenfluch der belarussischen Kultur besteht darin, über ein Ungeheuer reflektieren zu müssen, dessen biologische Rhythmen vom Moment der Geburt an den Rhythmus unserer Herzen bestimmen.

Oft wird gefragt: Warum ist die belarussische Literatur so düster?

Wenn diese klassische Frage wieder einmal im öffentlichen Raum erklingt, bekommt der Leviathan einen Schluckauf — es sind die düsteren belarussischen Schriftsteller, die sich in seinem Bauch vor Lachen kugeln.

Wir sind zermürbt von den zahlreichen Imperien, die versucht hatten, uns zu vernichten. In der Kindheit erzählten sie uns fremde Märchen, in den Kirchen wandten sie sich in einer fremden Sprache an uns, in der Schule brachten sie uns bei, die fremden Klassiker zu lieben. Gleichzeitig kultivierten sie sorgfältig und minutiös unseren kulturellen Minderwertigkeitskomplex, indem sie die Lehrpläne für die nationale belarussische Literatur aus zweitklassigen Werken zusammenstellten. Und selbst wenn wir letztendlich unsere Sprache als die des kreativen Selbstausdrucks wählen, schreien wir in Wehen oder unter Folter in der Sprache der anderen. Und so wie ein Vergewaltigungsopfer in sich das Kind des Vergewaltigers spürt, so werden auch wir zwischen dem schwarzen Hass und der qualvollen Liebe zu dem, was in uns ohne unsere Erlaubnis lebt, hin- und hergerissen.

Kann die totalitäre Staatsmacht uns, die wir drei Jahrhunderte totalitärer kultureller Gewalt hinter uns haben, denn noch durch etwas beeindrucken? Wohl kaum. Sie kann all das höchstens noch in einen Bilderrahmen stellen.

Auch die Überlebensstrategien eines schöpferischen Menschen im Rahmen dieses doppelten Totalitarismus haben sich seit 300 Jahren nicht verändert. Es gibt vier davon. Die absolute Servilität, die unter solchen Bedingungen immer zu Verrat, Gemeinheit und schöpferischer Sterilität führt. Der Kompromiss, in dessen Schatten du dich verstellen, durchschlängeln und dich trauen kannst, etwas Unauffälliges zu sagen, was wenigstens angesichts der Äußerungen unterwürfiger Kolleginnen und Kollegen auffällt. Ein Partisanenleben, in dem du in der Stille eines dunklen Waldes endlich sagst, was du für nötig hältst, doch auch riskierst, von niemandem gehört zu werden. Und schließlich der heroische Kampf, der damit enden wird, dass dein kurzes, dafür aber erfülltes Leben viel tiefgründiger und interessanter sein wird als das, was du in der Kunst jemals schaffen könntest.

Und trotzdem sind wir noch hier, obwohl wir schon 300 Mal hätten verschwinden müssen.

„Kulturpartisanentum“: Mittel und Zweck

Wenn wir die ewigen Streitereien der Belarussen darüber, wer von ihnen mehr für das Land gemacht hat, beiseitelassen, wenn wir vom Mitgefühl und von der Lust absehen, sich für zerbrochene Leben zu rächen, sollten wir Folgendes zugeben: Jeder von uns tut etwas, damit unsere Worte in Zeit und Raum weiterleben. Die Servilität bewahrt immerhin das (wenn auch dekorative) Existenzrecht der Sprache — und sei es nur, damit die Ureinwohner ihre Lobeshymnen auf das Land und auf den „geliebten Häuptling“ in ihrer Sprache singen. Die Kompromisse lassen Worten mit doppeldeutigen Konnotationen und verschlüsselten Bedeutungen durch die Schlupflöcher der Zensur hindurch in den öffentlichen Raum dringen. Das Produkt der ersteren und der letzteren wird zum Teil in der Schule gelehrt, sodass der Pfad, der unsere Kinder in den belarussischen Wald führt, zwar im Nebel verschwindet, doch er ist noch nicht ganz zugewuchert.

Und dort im Wald sind natürlich Partisanen — denn das „Partisanieren“ ist unser Nationalzeitvertreib. Ich könnte viel über das tapfere Partisanenvolk erzählen, werde dies aber nicht tun: Jedes öffentliche Wort könnte zu jemandes Verfolgung führen, zu Gewalt und Tod. Doch es gibt sie, die Partisanen: Ab und zu tritt einer der geheimen Söhne des belarussischen Waldes in den Vordergrund und erweitert damit die Liste unserer Helden, die vorzeitig sterben — nach ihrem Tod kennt sie wirklich jeder und liebt sie von ganzem Herzen.

Nun wissen wir (aus eigener Erfahrung und nicht aus der Geschichte), wie stark sich dieser ewige — kulturell-imperiale, politische, nationale, lokale — Totalitarismus auf kreative Persönlichkeiten auswirkt. Ich weiß nicht, wie das Leiden offizieller staatstreuer belarussischer Kulturschaffender genau aussieht — denn sie leiden natürlich. Aber ich weiß nur zu gut, woran die „Kulturpartisaninnen und Kulturpartisanen“ leiden.

Der Leviathan grenzt das Denken stark ein. Selbst wenn wir über ausreichende Bildung und intellektuelle Familientraditionen verfügen, selbst wenn wir gewohnt sind, kritisch und anders zu denken und uns sehr gut mit kulturellen Strömungen auskennen, ist unsere Erfahrung von Kindheit an und bis ins Erwachsenenalter hinein die eines Menschen, der immer der Macht des Systems unterworfen ist. Wir sind immer drinnen, nicht draußen. Unsere Reflexionsmöglichkeiten sind immer gering — geringer als wir es uns vorstellen. Der Kampf um die Meinungsfreiheit ist für uns immer und vor allem der Kampf mit uns selbst.

Und noch etwas: Manchmal ist es körperlich unmöglich, bestimmte Ideen zu konzeptualisieren. Als ich versuchte, meine noch frischen Eindrücke der letzten belarussischen Revolution in einem literarischen Text zu beschreiben, fühlte ich mich, als würde jemand gnadenlos eine Art dünnen Film von meiner Leber, meiner Milz, von allen inneren Organen abzuziehen — und ich konnte diesen körperlichen Schmerz nicht überwinden. Das Ausmaß und die Dauer des gemeinsamen Traumas, das Fehlen einer klaren Hoffnung auf einen baldigen — oder wenigstens in der Perspektive der eigenen Biographie sichtbaren — Sieg, die Hilflosigkeit im Angesicht des Bösen, die Unmöglichkeit, all denjenigen, mit den man mitfühlt, zu helfen — all das kann nicht in Worte gefasst werden, denn Wörter sind machtlos: Sie helfen nicht gegen Folter. Das Gefühl der Sinnlosigkeit und der Ziellosigkeit der Äußerung, das 300 Jahre lang anhält, macht die Sprache unnachgiebig.

Im Gefängnis scheint alles unwichtig, außer dem Gefängnis selbst. Woran man auch denkt, man denkt als Erstes an die fehlende Freiheit. Wohin man auch geht, stößt man gegen eine Wand. Jeden Tag ist man gezwungen, aus verschiedenen Anlässen immer das gleiche Lied zu singen, weil andere Lieder unwichtig sind. Dieses Lied wurde vor deiner Zeit gesungen und es wird weiter gesungen werden, nach deiner Zeit. Das Rad und der Kreis sind deshalb eine beliebte Metapher bei unseren Dichtern.

Andererseits sind auch Sturheit und sogar eine Art Verbohrtheit unsere nationalen Eigenschaften. Wenn wir der Welt etwas geben können, dann ist es die immer wieder reflektierte Erfahrung, dass wir ohne Hoffnung und Sinn, aber mit Glaube und Aufopferung unermüdlich für unser Recht auf Existenz kämpfen. Und diese Erfahrung ist nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger totalitärer Staaten wichtig. Der Mensch ist ein grausames Tier, und er schafft eine totalitäre Umgebung, wann und wo immer er günstige Bedingungen dafür hat. Ist das in der Familie so — dann auch in der Familie. In einer Freundschaft — dann auch dort. Im Büro, in einer Schulklasse, in einem Künstlerverein, in einer Partei ...

In den 300 Jahren unserer Existenz in Imperien haben wir ein kreatives Instrumentarium angesammelt, das die Menschen in einer freien Welt nicht brauchen: Äsopische Sprache und eine zwar primitive, dafür aber für ebenso unterdrückte Leserinnen und Leser leicht zu entschlüsselnde Symbolik. Existenzieller Humor, der nie über die Hecke unseres kleinen Gemüsegartens hinausgeht. Die Gewohnheit, das Wichtigste zwischen den Zeilen zu schreiben. Die Tradition der „Drynduschka“ [ein kurzes humorvolles Lied — Anm. d. Ü.] als ein besonderes Genre, das im offiziellen Stil für inoffizielle Zwecke geschrieben wird. All das lieben, kennen und praktizieren wir. Wir zappeln weiter im Bauch unseres Leviathans, wir sitzen auf Bänken vor Polizeistation und verlassen die Straßen unserer Städte nicht. Wir wissen seit langem, dass das Böse unbesiegbar ist, und wir hoffen nicht auf den strahlenden Sieg des Guten, aber wir bekämpfen die Dunkelheit jede Minute — einfach durch unsere bloße Existenz.

Wir werden dafür kritisiert, dass wir nur über uns schreiben, uns in einem kulturellen Ghetto einschließen, nur zaghaft mit globalen Diskursen arbeiten und an einer klassischen Poetik festhalten. Stimmt alles: Wenn man im Bauch des Leviathans sitzt, ist es schwer, sich vorzustellen, wie der Ozean, südländische Inseln und weiße Albatrosse aussehen. Umso schwerer ist es, darüber zu schreiben.

Doch wenn Sie sich eines Tages fragen (vielleicht nicht mehr zu unseren Lebzeiten), woran dieses alte Monster verreckt ist, dieser alte Fisch, der seit je ganze Länder und Völker verschlang; wenn Sie sich fragen, wer so unauffällig und beständig ein tödliches Loch in seine Eingeweide fraß, sodass der giftige Inhalt seines Magens hineinströmte und das Monster von innen tötete — dann sollen Sie wissen: Das waren wir.

Aus dem Russischen übersetzt von Nika Mossessian

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