9 June 2023Belarus

Trauma

Aufzeichnungen eines Schriftstellers, der niemals ans Wegfahren gedacht hat

by Yahor V.
© Alicyja H.


Diesen Text könnte Arthur P. oder Viktor K. geschrieben haben. Ihn könnte Maria A. und Olga D. verfasst haben. Wie auch Denis U. und viele andere Menschen, die gedacht haben, dass sie niemals Belarus verlassen werden. Aber dann hat man bei Aljona M. an der Tür geklopft und bei Maxim E. angerufen. Jahor W. hat eine Vorladung der Miliz erhalten.

… Diesen Text hat Jahor W. aus seinen Notizen, seinem Briefwechsel, aus Telefongesprächen und symptomatischen Erscheinungen zusammengestellt.

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∗∗∗

[Einatmen]

∗∗∗

Ich lebe schon seit einer Woche in Vilnius. Wie es dazu gekommen ist, darüber kann ich noch nicht sprechen.

∗∗∗

„Bist du noch am Leben?“

„Ja, doch. Aber ich weiß noch nicht, was ich hier für eine Funktion habe“.

Ich sitze hier ohne Arbeit und verfresse mein letztes Geld. In Litauen bin ich ein überflüssiger, unnützer Mensch. Ich bin ein Fisch, der aus dem trüben Wasser ans warme, saubere Ufer gespült wurde.

∗∗∗

„Jahor, darf ich dich bitten, die Blumen zu gießen? Im Schlafzimmer, auf dem Fensterbrett, dann die großen Vasen auf dem Fußboden neben dem Fernseher und die kleinen über der Bartheke. Du kannst normales Wasser nehmen, Zimmertemperatur. Ich wäre dir sehr dankbar“.

„Ja, kein Problem. Ich habe allerdings eine Wohnung gefunden. Morgen ziehe ich dort ein“.

„Wie hast du denn an dem neuen Ort geschlafen?“

„Die letzten Nächte habe ich nicht besonders gut geschlafen. Ich werde um fünf oder sechs Uhr wach und kann dann nicht mehr einschlafen. So eine Art Programmabsturz“.

„Trauma“

∗∗∗

[Einatmen]

Ich lebe schon seit einem Monat in Vilnius. Aber ich kann nicht darüber reden, wie es dazu gekommen ist.

Am Tag meiner Abfahrt habe ich Fleisch aus der Tiefkühltruhe geholt, damit es bis zum Abendessen auftaut.

Ich habe meine Abreise nicht geplant, obwohl es in den letzten drei Jahren sehr schwierig war, in Belarus unter einer Betonplatte zu leben, die man auf das Land gedrückt hat. Einzig hilfreich war der Glaube daran, dass dieses Unrecht nicht ewig andauern kann. Es schien so, als ob jetzt, genau jetzt, irgendein Held alles wieder gut machen würde. Aber die Helden verschwanden, einer nach dem anderen. Stählern wie sie waren, wurden sie gebrochen wie trockene Zweige. Wer hätte daran gedacht, dass dieses hässliche, schiefe Konstrukt imstande ist, so viel Lebendiges kaputt zu machen.

Selbst Jesus, wenn er in Belarus landen würde, würde zum Extremisten erklärt. Man würde ihn sicher wegen Hochverrats anklagen und vielleicht zum Tode verurteilen, zum zweiten Mal.

∗∗∗

„Grüß dich, Jahor! Am 10. hat man Onkel Wasja festgenommen“.

„Grüß dich! Ich hatte gedacht, dass sich Wasja schon irgendwo versteckt hat“.

„Mischa ist nach Poznań ausgereist“.

„Und Vitalij nach Georgien, glaube ich“.

∗∗∗

Das Fließband der Repressalien arbeitet so schnell, dass man über niemanden mit Sicherheit sagen kann: Er ist schon gestorben, er sitzt im Knast, er hat das Land verlassen oder noch nicht festgenommen worden.

Das Fließband der Repressalien arbeitet schon so lange, dass ich mich nicht erinnern kann, wann alles angefangen hat.

∗∗∗

Im Herbst 2020 bin ich einige Male aufgewacht, weil ich mit den Zähnen geknirscht habe. Das war meine Reaktion auf die Gigabytes von Gewalt ringsherum. Ich habe im Schlafen so fest zugebissen, dass ich mir zwei Zähne zerbrochen habe. Einen Zahn habe ich dabei abgebrochen, ihn verschluckt und bin vor Schmerzen wachgeworden. Nach dem ersten Vorfall dieser Art hat sich zu meiner Angst vor dem Leben am Tage die Angst gesellt, in der Nacht zu schlafen.

Das hat etwa zwei Monate gedauert. In der Nacht wurden meine Kiefer so müde, dass ich tagsüber nichts Festes essen konnte. Dazu sind Probleme mit meinen Augen und dem Magen gekommen. Ich wollte nicht sehen, was um mich herum geschieht und war nicht imstande, das Gesehene zu verdauen. Dabei war mir klar, dass meine Probleme vergleichsweise belanglos sind. Man hat mir nicht das Rückgrat gebrochen, ich habe wenig gelitten, und deswegen hatte ich wohl kein Recht darauf, meine Geschichte zu erzählen und die Anderen damit zu stören, die wirklich gelitten haben.

Nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine habe ich überhaupt das Recht verloren, über mich selbst zu reden. Ein gebrochener Mensch und eine zerstörte Stadt, das sind zwei Tragödien, die man nicht vergleichen kann. Ich fand mich hinter dem Horizont der Ereignisse, allein mit meinem Unglück.

Dieses Unheil hat bis jetzt keine Form. Es wächst unaufhörlich von allen Seiten und gibt einem keine Zeit und keine Chance, es zu begreifen. Dieses Unheil verbirgt in sich millionenfach das unausgesprochene Unglück der anderen. Niemand kann es aussprechen, weil niemand mehr die Worte dafür hat.

∗∗∗

„Wie ist es denn jetzt in Belarus? Möchtest du was mitgeben?“

„Schönen Gruß von mir“.

∗∗∗

Wenn es für mich alles unerträglich wurde, bin ich immer in den Wald gegangen. Ich konnte dort mehrere Stunden herumirren. Der Wald war mir Zuflucht, hat mir für einige Zeit ein Gefühl von Sicherheit gegeben. Ich habe bewusst solche Stellen gesucht, aus denen es schwer war herauszukommen, in der Hoffnung, dass ich den Rückweg nicht finden und nie zurückkehren würde.

Ich weiß noch, wie ich lange neben den Bäumen gestanden, in den Himmel geschaut und versucht habe, mir vorzustellen, dass auch ich ein Baum sei.

Ich wollte leben, aber ich wollte kein Mensch sein.

∗∗∗

„Neben deinem Haus steht ein Minibus. Weiß nicht, ob sie deinetwegen da sind oder nicht“.

„Und was machen sie?“

„Ohne Brille kann ich nichts sehen. Ich schreibe dir später“.

„Gut“.

„Sie sägen da die Bäume ab. Falscher Alarm“.

∗∗∗

Mit Beginn des Krieges wurde es verboten, sich im Wald aufzuhalten. So hat man mir die einzige Möglichkeit genommen, auszuatmen. Seitdem atme ich die Luft nur noch ein. In meinem Inneren schmerzt einfach alles. Ich glaube, ich habe alle Krankheiten der Welt.

∗∗∗

Ich kann mich gut erinnern, wie mein Freund zu mir gesagt hat: „Wenn es nur bei solchen Sachen bleibt, bin ich bereit, das auszuhalten. Das kann man ertragen“. Man hat ihn mehrere Male zu prophylaktischen Gesprächen vorgeladen oder für 24 Stunden festgenommen.

Ich habe gewusst, dass ich früher oder später dran sein würde. Ich hatte ständig das Gefühl, dass mir jemand Böses im Nacken sitzt.

Mein Freund hat Belarus zwei Wochen vor mir verlassen.

∗∗∗

Es hatte den Anschein, als ob ich im Ausland die Schultern endlich von ihrer Last würde befreien können, laut schreien und alle aufgestauten Gefühle herausweinen könnte. Aber, wie es aussieht, werde ich das alles wohl immer weiter mit mir herumtragen.

Entschuldigung, was haben Sie mich gefragt?

∗∗∗

[Einatmen]

∗∗∗

Ja, ich lebe schon seit zwei Monaten in Vilnius,

Es gab keinen einzigen Tag, an dem ich nachhause zurück gewollt hätte. Ich habe mich ziemlich schnell mit dem Gedanken versöhnt, dass ich auf der anderen Seite der Grenze kein Zuhause mehr habe (und in den Büchern hat man über Sehnsucht und Nostalgie geschrieben).

Genau vor zwei Monaten habe ich viel Schlimmes erfahren müssen. Ich möchte mich noch immer nicht mit diesen Erinnerungen befassen. Sie sind wie ein Sack schmutziger Wäsche, eigener und fremder. Wenn man ihn nicht anfasst, vielleicht verschwindet er dann von selbst?

∗∗∗

„Was ist denn los?“

„Sondereinheit, Verhör, Lügendetektor, Dursuchung“.

„Ach, Scheiß!. Tut mir leid. Sagst du mir Genaueres?“

∗∗∗

„Die Ermittlungsabteilung des KGB der Republik Belarus führt ein Strafverfahren ... eingeleitet aufgrund der Durchführung eines Terrorakts, der die Merkmale des Verbrechens gemäß Strafgesetzbuch, Teil 1, § 289 hat. Die Vorermittlungen haben ergeben, dass…“

∗∗∗

„Hände auf den Schoß, Augen zum Fußboden. Alles klar?“

„Ja“.

„Ich höre nicht. Alles klar?“

„Ja“.

„Password vom Handy“.

„5008“.

„Und in der Tasche, das sind Medikamente gegen Magengeschwüre“.

∗∗∗

Später, als N. das erfahren hat, hat er gesagt: „Mein Gott, da haben sie ja einen Verbrecher gefunden. Wofür denn eigentlich?“

N. stellt sich die Frage zum ersten Mal. Ich habe schon 2020 aufgegeben, nach einer Antwort zu suchen.

∗∗∗

Man hat mir nicht gesagt, warum man mich festgenommen hat. Es war mir nur klar, dass alles, was in den Zeitungen zu lesen war und worauf ich mich schon lange vorbereitet hatte (und trotzdem unvorbereitet war), jetzt mir bevorstand.

Mir! Wie kann das sein?

∗∗∗-

Aus der Zeitung:

„In Bobruisk hat der KGB einen Achtzehnjährigen festgenommen. Er musste sich ganz ausziehen und bei der Videoaufzeichnung nackt über sich erzählen“.

∗∗∗

Ich war mir sicher, dass ich noch lange in ihren Fängen bleiben würde. Wie mein Urgroßvater, der „als unversöhnlicher Feind der Sowjetmacht konterrevolutionäre Propaganda gegen die Partei geführt hat, um diese zu diskreditieren. Am 11. 11. 1937 hat die Troika <Ein Sondergericht – Anm. der Übersetzerin> beschlossen: 10 Jahre Umerziehungsarbeitslager“.

Das alles hat es schon in der Geschichte meines Landes gegeben, in der Geschichte meiner Familie. Und jetzt bin ich selbst davon betroffen.

Ich wusste, dass niemand mich retten wird. Weder die Rechtsanwälte noch die Resonanz in den Medien. Diese Institutionen sind kaputtgegangen. Allein mit dem Bösen. Umringt von Fremden.

Aber vielleicht ist es auch besser so. Wenigstens wird niemand sich an meine Angst erinnern können. Ich wollte nur eins: Einen Schluck Freiheit. Um ihn in mir festzuhalten und nie mehr zu verlieren.

„Festhalten“, dieses Wort hat keine andere Bedeutung mehr. Es bezieht sich nur auf den Menschen.

Ich habe gedacht: „Nun ist Schluss“. Ab diesem Moment werde ich über meinen Körper nicht mehr verfügen.

Einige Stunden lang habe ich mit den Händen im Schoß gesessen, habe die Kampfstiefel der Polizisten aus der Sondereinheit betrachtet und nichts von meiner Zukunft gewusst.

∗∗∗

„Warum hat man dich festgehalten und dann freigelassen? Verstehst du das?“

„Nein“.

„Das ist der rätselhafteste Teil“.

∗∗∗

[Einatmen]

∗∗∗

Seit drei Monaten lebe ich jetzt schon in Vilnius.

Genau vor drei Monaten habe ich Fleisch aus der Tiefkühltruhe geholt, damit es bis zum Abendessen auftaut, und am Abend hat man mir an der belarussisch-litauischen Grenze Handschellen angelegt.

„Ist das alles? Sie haben nur diesen Rucksack? Hände hinter den Rücken. Wir nehmen einen Fahrgast mit“.

Handschellen. Wie kann das sein?

∗∗∗

„Ich habe mich in der Ukraine unter Raketenbeschuss hundertmal freier gefühlt, als ihr dort in Belarus. Die Ukraine hat mich nicht in Handschellen gefoltert“.

∗∗∗

Genau vor drei Monaten hat man mir die Handschellen angelegt. Nach ein paar Stunden hat man mir sie wieder abgenommen. Aber in dieser kurzen Zeit ist alles kaputtgegangen. Leise, sogar fast geräuschlos, ist alles kaputtgegangen, was mich in Belarus festgehalten hat.

∗∗∗

„Wohin fahren Sie?... Man kann auch nach Litauen. Wer hat Ihnen gesagt, dass es nicht geht? Fahren Sie. Wissen Sie, ich habe das Gefühl, dass Sie nicht zurückkehren werden“.

∗∗∗

Es gab keinen einzigen Tag, an dem ich nachhause zurückwollte.

Ich habe mein Haus sehr geliebt. Da ist mein Vater geboren. In meinem Haus hängen die Porträts meiner Vorfahren an der Wand, und in der Ecke steht eine Kommode, die mein Großvater selbst gemacht hat und die ich später restauriert habe. Ein alter Leuchter an der Decke, den ich aus Lwiw mitgebracht habe. Und den Türgriff aus Paris. Das Bild hat meine Mutter gestickt. Und das zweite Bild meine Tante, die mittlerweile gestorben ist. In den Regalen die Bücher mit den Autogrammen der Schriftsteller. Alle Sachen in diesem Haus habe ich geliebt. Aber ich weiß nicht, ob ich jemals die Spuren der fremden Hände wegkriege. Ob ich es zum Beispiel schaffe, den Spiegel von meiner Großmutter wieder sauber zu machen, um in den Spiegel zu schauen und mich selbst darin zu sehen, den hässlichen und schwachen, einen, der nicht imstande ist, sich selbst zu schützen, der im eigenen Haus um Erlaubnis bittet, draußen auf der Treppe eine zu rauchen, in Begleitung von Polizisten aus der Sondereinheit mit Maschinengewehren. Es sind all die Sachen, die mir von meinen Reisen und meiner Familie erzählen und die mich jetzt immer daran erinnern, was ich nicht in meinem Gedächtnis behalten möchte.

Manche Emigranten schreiben, dass sie ihr Zuhause vermissen, ich nicht. Meine ganze Liebe ist zu Essig geworden. Ich habe kein Zuhause mehr.

∗∗∗

„Jahor, Sie müssen anfangen zu reden. Das wird für die Leute eine große Freude sein“.

∗∗∗

Ich weiß nicht. Ehrlich gesagt, möchte ich zusammen mit ihnen schweigen. Ich habe keine Hoffnung, dass jemand außenstehender mich verstehen wird.

∗∗∗

[Statt Ausatmen]

∗∗∗

Vilnius ist eine schöne Stadt.

Der einzig schreckliche Ort dort ist der Busbahnhof. Wenn ich sehe, wie ein Bus nach Minsk sich mit Fahrgästen füllt, bin ich fast am Weinen. Das ist kein Heimweh, das ist die Angst in diesem Bus zu sein und dann hinter dem Rücken zu hören: „Jegor Iwanowitsch, kommen Sie mit“.

Die Fahrgäste steigen in den Bus, sie werden gleich still und verschwinden da drin.

Vor ein paar Tagen habe ich eine Bekannte zum Bus gebracht.

Sie ist nach Belarus zurückgefahren, um noch einmal zu versuchen, dort zu leben. Ohne Schutz und ohne Armee. Allein mit dem großen Bösen. Ganz sicher ohne die Kraft, ihm zu widerstehen. Von innen zerschlagen und zermürbt. Ohne dass sie sich jemals etwas hätte zuschulden kommen lassen (aber mit der Verpflichtung auf ihrem gebeugten Rücken das Schuldgefühl zu tragen, da „die Mörder in diesem Moment von ihrem Territorium aus nach Kyjiw fliegen“). Verschreckt. Ergraut von dem, was sie gesehen hat. Versteinert durch die Unmöglichkeit, diesen Schmerz zu ertragen. Mit dem einzigen Wunsch, das Böse zu überleben und vielleicht mit ihrer Hand etwas Lebendiges zu schützen.

Und wissen Sie, sie wird es schaffen.

Aus dem Russischen übersetzt von Marina Koreneva

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