7 August 2023Georgia

Georgien: ein EU-Beitrittskandidat? Wann und unter welchen Bedingungen?

Einschätzungen von Experten, Politikerinnen und Politikern

by OWM
© Ministry of Economy and Sustainable Development of Georgia


Im Juni 2022 hatte die EU der Ukraine und der Republik Moldau den Status als EU-Beitrittskandidat zuerkannt. Für Georgien jedoch wurde diese Entscheidung auf Ende 2023 verschoben, unter der Bedingung, bis dahin zwölf Empfehlungen für den EU-Beitritt zu erfüllen. Nun befürchten politische Opposition und Vertreter der Zivilgesellschaft, die Regierungspartei Georgischer Traum sabotiere die europäische Integration Georgiens und versuche vielmehr, das Land in die russische Einflusszone zurückzubringen. Die Frage, wann und unter welchen Bedingungen Georgien den EU-Beitrittskandidatenstatus bekommen soll, ist im Land hochumstritten. Darum haben wir Experten sowie Politiker und Politikerinnen der parlamentarischen wie außerparlamentarischen Opposition darum gebeten, sich zu dieser Frage zu äußern:

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Anna Butschukuri
Salome Samadaschwili
Giga Bokeria
Thornike Gordadze

Anna Butschukuri

Mitglied im Parlament sowie im politischen Rat der Partei Für Georgien

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© Parliament of Georgia

Georgien findet sich heute in einer paradoxen Situation wieder. Einerseits will die georgische Regierung die zwölf Reformempfehlungen nicht umsetzten, die laut der Europäischen Kommission nötig sind, um den Status eines Beitrittskandidaten zu erhalten. Andererseits ist es für uns lebensnotwendig, diesen Status zu bekommen – und zwar aus dem folgenden Grund:

Vor dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine gestaltete sich die EU-Erweiterungspolitik, um es vorsichtig auszudrücken, zurückhaltend. Erst der Krieg öffnete das „Zeitfenster“ für eine Integration Georgiens in die EU. Auch der Georgien-Krieg von 2008 spielt eine wichtige Rolle, denn rückblickend verstehen unsere europäischen Partner: Wäre ihre Reaktion auf die russische Invasion in Georgien anders gewesen, hätte das Putin-Regime mit großer Wahrscheinlichkeit den Angriff auf die Ukraine nicht gewagt. Dies ist ein weiteres Argument dafür, dass Georgien die Hoffnung auf eine Beitrittsperspektive nicht aufgeben sollte.

Jedoch wird sich dieses „Zeitfenster“ auch wieder schließen. Für mich ist der Ausgangspunkt, grundsätzlich weiter auf eine europäische Perspektive für Georgien zu setzen, unabhängig von der aktuellen georgischen Regierung und deren fehlender Bereitschaft, die Reformagenda der Europäischen Kommission zu erfüllen.

Unseren Schätzungen zufolge wurden nur zwei von zwölf empfohlenen Reformen tatsächlich umgesetzt. Die Regierungspartei vermeidet es, Reformen einzuleiten, die ihre Machtgrundlage untergraben könnten: Machtgleichgewicht, Stärkung der Gewaltenteilung, Antikorruptionsreformen, Beendigung der Justiz-Kontrolle durch die Clans. Keine einzige Empfehlung, die den politischen Interessen der Regierung widerspricht, wird umgesetzt.

So ist beispielsweise ein großer Fortschritt bei Gender-Gerechtigkeit zu verzeichnen, aber dies widerspricht eben auch nicht den politischen Interessen der Regierung. Aus gleichem Grund wurden die empfohlenen Gesetzesänderungen gemäß des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erfüllt. Keine anderen Empfehlungen werden jedoch umgesetzt, da sie die Macht der Regierung gefährden könnten.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Oppositionsparteien haben wir an informellen parlamentarischen Arbeitsgruppen zur Umsetzung der zwölf Empfehlungen teilgenommen. In allen Arbeitsgruppen stellten wir eigene Vorschläge vor, doch wurde keiner von ihnen angenommen, und zwar immer aus dem gleichen Grund: der Angst der Regierung vor Machtverlust.

Doch unabhängig von unserer Regierung und davon, dass sie den EU-Beitrittskandidatenstatus nicht verdient hat, steht eines fest: Nicht eine Regierung bekommt diesen Status, sondern ein Staat und seine Bürgerinnen und Bürger. Außerdem muss auch die geopolitische Lage Georgiens berücksichtigt werden. Sollte die EU die Türe für Georgien schließen, wird dies das Land außenpolitisch isolieren. Eine solche Isolation wird aber automatisch dazu führen, dass Georgien weiterhin unter Russlands Einfluss bleiben wird. So viel die Regierung selbst oder von der Regierung bezahlte Experten auch von Georgiens Neutralität sprechen mögen: Sie bedienen damit nur das bekannte Kreml-Narrativ. Für Georgien gibt es nur zwei mögliche Szenarien: entweder der Beitritt in die EU und die NATO oder das Verbleiben in der russischen Einflusssphäre.

Natürlich besteht das Risiko, dass die georgische Regierung sich den EU-Beitrittskandidatenstatus als ihren Verdienst anrechnen oder ihn instrumentalisieren könnte, um ihre Macht zu konsolidieren. Doch müssen wir abwägen, was schwerer wiegt. Ich meine, das Wichtigste für unser Land ist, die europäische Perspektive beizubehalten. Und deswegen ist es entscheidend, dass Georgien den EU-Beitrittskandidatenstatus gerade angesichts der geopolitischen Gefahren für das Land bekommt. In der Tat sind diese Gefahren für Georgien ernster als für andere Länder, da es ein besetztes Land ist. Außerdem ist Georgien territorial nicht unmittelbar mit Europa verbunden – gerade deswegen wäre der Verlust der europäischen Perspektive für das Land besonders schmerzhaft.

Vielleicht wird der EU-Beitrittskandidatenstatus politisch mit der Erfüllung von bestimmten Bedingungen verbunden sein, – welche es konkret sein könnten, kann zurzeit nicht vorhergesagt werden. Möglicherweise wird hier die Umsetzung der Parlamentswahl 2024 im Fokus sein oder auch andere Faktoren. Jedenfalls ist es wichtig, dass sie klar formuliert werden.

So war beispielsweise die Aussetzung des Gesetzes über „ausländische Agenten“, das nach russischem Vorbild verfasst wurde, durch das Zusammenspiel dreier Faktoren bedingt: Parlamentarische Prozesse, Proteste eines großen Teils der Bevölkerung und sehr klare Signale unserer Partner, die sich nicht auf allgemeine Aussagen beschränkt hatten, – was der georgischen Regierung keinen Spielraum mehr ließ. Natürlich funktionieren die gleichen Methoden nicht immer auf die gleiche Art und Weise, doch gibt es da auch Synergieeffekte. Deshalb wird bei der Status-Frage eine klare Position unserer Partner eine äußerst wichtige Rolle spielen.

Was den Zeitpunkt angeht, – bekommen wir erst den Status und müssen dann die Bedingungen erfüllen oder, umgekehrt, müssen wir zuerst die Bedingungen erfüllen und bekommen dann erst den Status, – so sind meiner Ansicht nach beide Möglichkeiten akzeptabel. Das Wichtigste ist, dass Georgien als Staat und die georgischen Bürgerinnen und Bürger wissen, dass die Türen der EU für sie offenbleiben. Denn 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung verbinden ihre Zukunft mit dem Beitritt zu EU und NATO – sie wissen, dass, wenn diese Türen verschlossen sind, Georgien in den nächsten 20 oder 25 Jahren in die Vergangenheit zurückgeworfen wird.

Salome Samadaschwili

Mitglied im Parlament Parteisekretärin der Partei Lelo

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© Mirian Meladze

Betrachtet man die Beziehungen zwischen der EU und Georgien beziehungsweise der EU und unserer Region im historischen Kontext, so bedurfte es erst einer ernstzunehmenden Sicherheitskrise, damit die EU sich dem Aufbau von strategischen Beziehungen mit Georgien, Ukraine und Moldau annäherte.

Der Krieg von 2008 gab einen Anstoß, Beziehungen zwischen der EU und Georgien zu entwickeln. Der Einfall Russlands in Georgien und seine Auswirkungen haben zu einer Sicherheitskrise geführt, die nach einer europäischen Lösung verlangte. Die Östliche Partnerschaft wurde in vielerlei Hinsicht zu einer Antwort auf diese Krise und zur ersten wirklich strategisch wichtigen Initiative zum Aufbau engerer Beziehungen zwischen unseren Ländern. Damals stand jedoch die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft dieser Länder nicht auf der Tagesordnung. Es gelang trotz größter Bemühungen nicht einmal, in der Abschlusserklärung des Prager Gründungsgipfels 2009 eine europäische Perspektive für diese Länder zu erwähnen. Viele EU-Mitgliedstaaten betonten, dass die Östliche Partnerschaft kein Weg zur Mitgliedschaft sei.

Damit die Situation sich änderte, bedurfte es leider einer weiteren ernstzunehmenden Sicherheitskrise, die weitaus größer ist: der russisch-ukrainische Krieg, eine großangelegte Invasion Russlands in der Ukraine, die im letzten Jahr begann. Der Krieg machte das Unmögliche möglich: Die Ukraine und Moldau erhielten den Status als Beitrittskandidaten, Georgien eine europäische Perspektive und die Möglichkeit, den Status eines Beitrittskandidaten zu erlangen.

Dies war ein großer Schritt nach vorn und ein wichtiger geopolitischer Wandel im Denken der EU. Die „Nachbarschaftspolitik“ wurde durch einen neuen Abschnitt ersetzt: Georgien, Ukraine und Moldau wurden in den EU-Erweiterungsprozess aufgenommen.

Nichtsdestotrotz ist die Zukunft noch immer ungewiss, insbesondere für Georgien. Während die Europäische Union über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau noch vor Jahresende entscheiden wird, wartet Georgien noch immer auf eine Entscheidung bezüglich seines EU-Beitrittskandidatenstatus. Sollte es diesen nicht erhalten, wird aus diesem Trio in der Östlichen Partnerschaft wahrscheinlich ein Duo, und Ukraine und Moldau werden ohne Georgien voranschreiten.

Der Zwischenbericht der Europäischen Kommission gibt keinen Anlass zum Optimismus: Nur drei der zwölf Empfehlungen wurden umgesetzt. Auch die Reaktion der georgischen Regierung war wenig erfreulich: Der georgische Premierminister erklärte in seiner Rede vor dem Parlament am 30. Juni, alle Bedingungen seien erfüllt. Offensichtlich beabsichtigt die regierende Partei Georgischer Traum nicht, die von der EU geforderten Reformen tatkräftiger voranzutreiben. Ganz im Gegenteil, die Regierungsmehrheit plant, das Veto des Präsidenten gegen Änderungen des Wahlrechts aufzuheben, um ihre Kontrolle über die administrativen Strukturen des Wahlsystems zu stärken.

Die Regierung hat keinerlei Pläne für eine Justizreform oder die Erfüllung anderer EU-Auflagen. Die Botschaft der Regierung ist klar: Die EU soll uns so akzeptieren, wie wir sind – unreformiert, korrupt und zunehmend autoritär. Die Regierungspartei scheint sich darauf vorzubereiten, falls der Kandidatenstatus verweigert wird, dafür entweder der Opposition und den NGOs die Schuld zu geben, oder aber der EU selbst. Der Premierminister erklärte vor dem Parlament, die Europäische Volkspartei (EVP) sei eine Partei des globalen Krieges und mutmaßte erneut, die EU versuche Georgien zu zwingen, im Gegenzug für den Kandidatenstatus eine zweite Front gegen Russland zu eröffnen.

Wenn eine antieuropäische, zutiefst korrupte Regierung, die im russisch-ukrainischen Krieg oft eine russlandfreundliche Haltung einnimmt, von der EU ermutigt wird und Georgien den Status eines Beitrittskandidaten erhält, – wird dies die russische Oligarchenherrschaft in Georgien dann stärken? Offensichtlich betrachtet die Regierungspartei den Kandidatenstatus nur unter dem Gesichtspunkt ihres Wahlvorteils und bereitet sich bereits darauf vor, dass er möglicherweise nicht gewährt wird. Die Ereignisse vom März 2023 (Proteste mit der Forderung, den Gesetzentwurf über „ausländische Agenten“ nach russischem Vorbild zurückzunehmen) und vom Juni 2019 (Proteste, die durch eine internationale Konferenz unter dem Vorsitz des russischen kommunistischen Abgeordneten Gawrilow im georgischen Parlament ausgelöst wurden), sind eine deutliche Erinnerung daran, wie Georgier auf Versuche des politischen Kurswechsels – weg von einer europäischen Zukunft hin zu Russland – reagieren. Wollte die prorussische Regierung die Reaktion des georgischen Volkes auf eine offene Abweichung vom euroatlantischen außenpolitischen Kurs testen, so haben die Georgier diesen Test bestanden und gezeigt, dass die offene Unterstützung eines prorussischen Kurses für jede politische Partei gefährlich werden könnte. Wenn also die Regierungspartei Georgischer Traum in Zukunft den Kandidatenstatus erlangen will, – was höchst fraglich ist –, dann nur, um ihre Wiederwahl im Jahr 2024 zu sichern.

Was bedeutet das für die Europäische Union? Die EU steht vor einem Dilemma: Soll sie aus geopolitischen Erwägungen Georgien den Status verleihen, um das Trio Georgien, Ukraine und Moldau zu erhalten? Oder soll sie den Erfolg der Reformen bewerten? Letzteres würde bedeuten, die Entscheidung über die Verleihung des Kandidatenstatus zu verschieben, bis Georgien eine Regierung hat, die diese Reformen umsetzt.

Unterdessen möchte die georgische Bevölkerung nicht nur den Kandidatenstatus – die meisten wissen nicht einmal, was das bedeutet –, sie möchte eine europäische Zukunft: funktionierende Marktwirtschaft, unabhängige staatliche Institutionen, Arbeitsplätze, Sicherheit, Freiheit und Wohlstand, also all das, was sie mit Europa verbindet. Dafür sind aber genau die Reformen notwendig, die die derzeitige Regierung nicht umgesetzt hat und wohl auch in Zukunft nicht umsetzen wird, wenn sie an der Macht bleibt. Sie wird wahrscheinlich anstreben, ihre autokratische Herrschaft weiter zu festigen, indem sie nach den nächsten Wahlen versuchen wird, die letzten Reste der unabhängigen Opposition und Medien zu zerstören. Die jüngste Gewaltkampagne gegen Oppositionelle, die mit dem Segen des Georgischen Traums entfesselt wurde, zeigt deutlich, welchen Kurs die Regierungspartei für Georgien eingeschlagen hat. Der Georgische Traum wird alles tun, um an der Macht zu bleiben, denn er hat etwas zu verlieren: Je korrupter die Regierung, desto gefährlicher ist für sie ein Machtwechsel.

Unterdessen braucht Georgien nicht nur den Kandidatenstatus an sich, sondern auch einen beschleunigten Prozess der tatsächlichen europäischen Integration. Wir benötigen keinen weiteren Balkanisierungsprozess. Damit meine ich, dass in einigen Balkanländern der EU-Beitrittsprozess von eigennützigen Eliten dazu missbraucht wird, um an der Macht zu bleiben. Und wegen der fehlenden Reformen gibt es keine Aussichten auf rasche Fortschritte bei der EU-Mitgliedschaft.

Georgien benötigt die EU-Mitgliedschaft und nicht nur den Status eines Beitrittskandidaten. Der Integrationsprozess kann Jahrzehnte dauern. Für rasche Fortschritte jedoch ist ein politischer Wandel erforderlich. Folglich muss die EU einen Weg finden, dem georgischen Volk dazu zu verhelfen, das Gewünschte zu bekommen: eine demokratischere, transparente und effektive Regierung. Der Status als EU-Beitrittskandidat sollte dabei als ein Instrument zum Erlangen dieses Ziels gesehen werden.

Giga Bokeria

Vorsitzender der Partei Europäisches Georgien 

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© Tata Shoshiashvili / OC Media

Der Status eines EU-Beitrittskandidaten kann für unser Land ein wertvolles politisches Instrument sein. Aber nur dann, wenn das Land eine Regierung hat, die den Status für eine wirkliche Annäherung an die EU, für eine NATO-Mitgliedschaft und perspektivisch für eine Rückkehr in die westliche Welt nutzen wird. Heute ist das Gegenteil der Fall.

Das Regime des Oligarchen Iwanischwili fährt einen Konfrontationskurs gegen den Westen und dämonisiert ihn, indem es die Lesart verbreitet, Georgien würde in den Krieg hineingezogen. Das Regime versucht so, die georgische Gesellschaft davon zu überzeugen, auch der Westen sei Georgien feindlich gesinnt, wolle „uns für seine Zwecke ausnutzen“, beispielsweise um „eine zweite Front“ in Georgien zu eröffnen und ein Blutvergießen auszulösen.

Ein antiwestlicher Kurs, ein zunehmend autoritärer Regierungsstil und eine beträchtliche Einschränkung der Bürgerrechte innerhalb des Landes machen es unmöglich, die Mechanismen effizient zu nutzen, die ein Kandidatenstatus mit sich bringen würde. Wir sind deshalb der Meinung, dass sich unsere Gesellschaft auf den demokratischen Wandel im Land konzentrieren muss. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass allein der Kandidatenstatus ohne einen Regierungswechsel das Land voranbringe.

Unsere Partei Europäisches Georgien wird versuchen, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger davon zu überzeugen, sich für einen Regimewechsel – hin zu einer prowestlichen, demokratischen Regierung – einzusetzen. Unabhängig davon, ob Georgien den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhält, müssen wir der Propagandamaschinerie im Vorfeld eine eigene Strategie entgegensetzen.

Sollte Georgien den Status als EU-Beitrittskandidat trotz des zunehmend autoritären Regierungsstils und der Isolierung vom Westen aus geopolitischen Gründen erhalten, so wird das Regime versuchen, proeuropäische Georgier und Georgierinnen propagandistisch davon zu überzeugen, dass der Regierungskurs mit dem Europa-Beitritt gar nicht in Widerspruch stehe und es daher auch keinen Grund zur Sorge gebe. In diesem Fall wird das Regime weiterhin eine Ungewissheit erzeugen, indem es widersprüchliche Signale an verschiedene Wählergruppen sendet, um gleichzeitig aber seine prorussische Haltung zu festigen und rechtsextreme Organisationen innerhalb des Landes zu stärken.

Sollte Georgien den Status jedoch nicht erhalten, so wird Iwanischwilis Regime beteuern, der Westen habe den Status dem georgischen Volk, nicht seinem Regime aberkannt. Damit wird das Regime versuchen, weiterhin Hoffnungslosigkeit und nihilistische Stimmungen zu schüren, indem es behaupten wird, der Westen habe die georgische Gesellschaft im Stich gelassen.

Dieser Propaganda müssen wir schon im Vorfeld entgegenwirken, indem wir unsere Gesellschaft davon überzeugen, dass wir primär auf einen Regimewechsel abzielen. Wenn wir eine prowestliche Regierung haben, werden auch echte Schritte hin zu einer euroatlantischen Integration möglich. In diesem Fall werden wir den Status eines EU-Beitrittskandidaten dafür nutzen können, endlich mit unserem Land in die Familie der westlichen Nationen zurückzukehren.

Thornike Gordadze

Mitarbeiter am Institut d’Études politiques Paris und Wissenschaftler am Jacques Delors Institute

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© Jasmine Martin

Aus Sicht der Europäischen Kommission ist es am wichtigsten, dass Georgien den Status des EU-Beitrittskandidaten erhält und damit der Prozess der europäischen Integration für Georgien fortgesetzt wird. Die Europäische Kommission zeichnet sich dabei dadurch aus, dass sie dem vorgegebenen Beitrittsverfahren besondere Aufmerksamkeit schenkt; der Prozess der EU-Integration wird für Georgien mehrere Jahre dauern – das ist der gewohnte Zeithorizont der Europäischen Kommission. Eine Abweichung von diesen Verfahren würde einen negativen Präzedenzfall schaffen und hätte negative Auswirkungen auf die Arbeit der Kommission.

Paradoxerweise setzt aber die georgische Regierung alles daran, dass Georgien den Status eines EU-Beitrittskandidaten nicht erhält, und wird auch, falls das Land den Status bekommt, weiterhin die Annäherungspolitik an Russland fortsetzen.

Wozu braucht die EU Georgien? Das Land liegt in einer geopolitisch wichtigen Region; viele Transitrouten, die Europa mit Asien verbinden, gehen durch Georgien. Der Mittlere Korridor, der durch den Südkaukasus und die Türkei führt, hat in letzter Zeit in Zusammenhang mit den internationalen Sanktionen und der allmählichen Abkoppelung Russlands von den globalen Handelsströmen an Bedeutung gewonnen.

Allerdings muss man klar zwischen der EU, der Europäischen Kommission sowie den EU-Mitgliedsstaaten unterscheiden. Die Mitgliedsstaaten hatten zur EU-Erweiterung immer schon unterschiedliche Positionen vertreten. Sollte Georgien der Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt werden, so wird dies aus geopolitischen Gründen geschehen, die selbst für die EU, die schon immer eine Skepsis gegenüber Geopolitik hegte, wichtiger werden.

Das Problem liegt darin, dass die georgische Regierung nichts unternimmt, um sicherzustellen, dass das Land den EU-Kandidatenstatus erhält. Der einzige Verbündete der EU und der Europäischen Kommission für eine positive Entscheidung in dieser Frage ist die überwiegende Mehrheit der georgischen Bevölkerung, die die europäische Integration unterstützt. Alle Umfragen bestätigen dies. Zurzeit besteht in der Region die Wahl zwischen einer Annäherung an Russland und einer Integration in die EU. Deshalb bedeutet die EU für 80 oder 85 Prozent der georgischen Bürgerinnen und Bürger eine Alternative zu Russland und wird mit Bildung, mit einer höheren Lebensqualität, mit höherem Einkommen und einem besserem Sozial- und Gesundheitssystem etc. in Verbindung gebracht.

Sollte die EU Georgien den Beitrittsstatus zuerkennen? Auf jeden Fall. Doch das Wichtigste dabei ist, wie und unter welchen Bedingungen dies geschieht. Es herrscht Einigkeit darüber, dass die heutige Regierung Georgiens die Empfehlungen der EU nicht umsetzt. Zwei oder drei weniger wichtige Empfehlungen wurden zwar erfüllt und ungefähr genauso viele nur zur Hälfte umgesetzt. Was aber die wichtigsten Empfehlungen angeht – Beendigung der Oligarchen-Vorherrschaft, Änderungen der Wahlgesetzgebung und eine Justiz-Reform, – so werden sie nicht nur nicht umgesetzt, sondern es gibt sogar erhebliche Rückschritte. Die georgische Regierung nimmt eine arrogante Haltung ein, so als würde sie signalisieren, der Status stehe Georgien auf jeden Fall zu, da es noch vor der Ukraine und vor Moldau an der Reihe sei; wenn die EU Georgien den Status nicht zuerkenne, dann trage die EU, die politische Opposition sowie die der Regierung kritisch gegenüberstehende georgische Zivilgesellschaft die Schuld daran.

Die Regierung hält jeweils eine Reaktion für beide Szenarien parat: Im ersten Fall werden autoritäre Tendenzen zunehmen, der Staat wird Repressionen verschärfen, sich die letzten Freiheitsinseln unterwerfen, – die noch unabhängigen Universitäten und Medien – und sich noch weiter geopolitisch an Russland orientieren. Das ist ein unumkehrbarer Prozess, da Staaten mit solcher Struktur immer in die russische Einflusssphäre fallen.

Sollte Georgien den Kandidatenstatus erhalten, so wird Iwanischwilis Regime dies auf die angeblich erfolgreiche Umsetzung der EU-Empfehlungen zurückführen. Was die geopolitische Ausrichtung und die Annäherung an Russland betrifft, so wird der Status kein Hindernis darstellen, da aus Sicht des Regimes der Beitrittskandidatenstatus noch nicht gleichzusetzen ist mit einer EU-Mitgliedschaft und den damit einhergehenden geopolitischen Verpflichtungen. So hat beispielsweise Serbien zwar den Status eines Beitrittskandidaten, unterhält aber hervorragende Beziehungen zu Russland.

Die EU trifft Entscheidungen nach politischen und nicht nur nach wirtschaftlichen oder anderen Kriterien. Deswegen muss diese Entscheidung äußerst gut überlegt sein. Einerseits darf sie nicht dem großen proeuropäischen Teil der georgischen Bevölkerung schaden, andererseits darf sie der georgischen Regierung keinen Spielraum und keine Gelegenheit lassen, die autoritären Tendenzen zu verschärfen und sich noch schneller an Russland anzunähern. Sollte Georgien den Kandidatenstatus erhalten, muss klargestellt werden, dass dies nicht den „Verdiensten“ Iwanischwilis und des Georgischen Traums geschuldet ist. Es muss betont werden, dass dies auf die kontinuierliche politische Arbeit der letzten Jahrzehnte zurückzuführen ist und außerdem eine Wertschätzung der georgischen Zivilgesellschaft und der von ihr geleisteten Arbeit darstellt.

Aus dem Russischen übersetzt von Nika Mossessian

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