Cine-i șefu’ aici?
Ce se întâmplă cu Biserica Ortodoxă din Moldova
4 December 2023
Ähnlich wie Tiere, die ihr Revier markieren, streben Politiker danach, der Bevölkerung ihre „korrekte“ Version der Erinnerung aufzudrängen. Zu diesem Zweck errichten sie nicht nur Denkmäler, sondern ändern auch Ortsnamen. Das ist allen Ländern bei einem Regimewechsel so, aber Chișinău sprengt in dieser Hinsicht den Rahmen. Eine Recherche von Sergej Erlich, Historiker und Chefredakteur der Zeitschrift „Historical Expertise“.
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Chișinău liegt an der Nahtstelle zwischen der rumänischen und die russischen Welt. In den letzten zweihundert Jahren hat die heutige Hauptstadt der Republik Moldau achtmal die Oberhoheit gewechselt. Bis zum Jahr 1812 gehörte sie zum Fürstentum Moldau, danach bis 1917 zum Russischen Kaiserreich. Nach einem kurzen Intermezzo als Hauptstadt der Moldauischen Demokratischen Republik kam sie 1918 zum Königreich Rumänien, wurde 1940 von der Sowjetunion annektiert und 1941 wieder rumänisch. Ab 1944 gehörte sie erneut zur Sowjetunion, bis sie schließlich 1991 Hauptstadt der unabhängigen Republik Moldau wurde und bis heute ist. Fast jede dieser Perioden ging mit der Umbenennung von Straßen einher.
2022 veröffentlichten die rumänischen Soziologen Mihai Rusu und Alin Croitoru ein Buch über die Einstellung der Gesellschaft zur Umbenennung von Straßen und Demontage von Denkmälern im postsozialistischen Rumänien. Mich verblüffte bei der Lektüre vor allem, dass in den rumänischen Städten nach 1989 nur zwölf Prozent der Straßen umbenannt wurden. In meiner Heimatstadt Chișinău schien mir dieser Anteil weit höher zu sein. Das Thema zog mich in seinen Bann, und so kann ich heute bestätigen, dass in der moldauischen Hauptstadt 77 Prozent aller Straßen nach 1989 neue Namen erhielten.
Das war, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, ein veritables Desaster. Die Bürger hatten erhebliche Schwierigkeiten, sich in ihrer eigenen Stadt zurechtzufinden. In den „wilden 1990ern“ und „fetten Nullerjahren“, als es noch nicht überall GPS gab, konnte ich den Taxifahrern, die häufig vom Land kamen und nur die neuen Bezeichnungen kannten, oft nicht erklären, wohin sie mich bringen sollten. Ich kannte ja meinerseits nur die alten Namen. Also musste ich mir mit Anweisungen wie „links“, „rechts“ und „geradeaus“ behelfen.
Es wäre ein Irrtum zu meinen, dies sei lediglich ein Problem der sowjetischen Generation aufgrund der notwendigen „Entkommunisierung“. Erstens wurden nach 1989 nicht nur Straßennamen mit kommunistisch-ideologischem Charakter geändert. Zweitens lebten in den 1990ern zahlreiche Menschen in Chișinău, die in der Zwischenkriegszeit geboren waren. Sie erinnerten sich noch daran, wie erst die „zaristischen“ Namen durch „rumänische“ ersetzt worden waren, worauf dann die „sowjetischen“ und nun die „postsowjetischen“ Umbenennungen folgten. Ihr mentaler Stadtplan ist im Lauf ihres Lebens viele Male zerstört worden.
Hier genügt der Hinweis, dass allein dreißig Straßen in Chișinău zwischen 1918 und 1991 vier Mal oder öfter umbenannt worden sind. Ein eindrückliches Beispiel ist die Straße, die heute nach dem rumänischen Gelehrten und Politikers Nicolae Iorga benannt ist. Sie wechselte ihren Namen nicht weniger als zehn Mal.
Die postsowjetischen Umbenennungen lassen sich nur im Zusammenhang mit den vorangegangenen toponymischen „Erinnerungskriegen“ begreifen, die im 20. Jahrhundert auf Chișinăus Straßen stattfanden.
Welche Funktionen haben Toponyme? Zunächst eine praktische – sie dienen zur räumlichen Orientierung. Unter diesem Gesichtspunkt sind Umbenennungen zwar denkbar, sollten jedoch keinesfalls in großem Maßstab durchgeführt werden. Und die Bedeutung der Namen ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidend.
Rusu und Croitoru führen dafür ein bezeichnendes Beispiel an. Ein Platz in Bukarest, auf dem ein beliebter Markt stattfindet, war zur Zeit des Sozialismus nach dem Kommunistenführer Alexandru Moghioroș benannt. Nach 1989 wurde er umbenannt, doch die meisten Bewohner der Stadt verwenden weiter den „kommunistischen“Namen.Dabei weiß kaum jemand, wer Moghioroș eigentlich war. Und nicht nur das: Obwohl es zwischen Rumänen und Ungarn seit langem Spannungen gibt, stört sich in diesem Fall niemand an dem eindeutig ungarischen Familiennamen – Moghioroș ist die rumänisierte Schreibweise der ursprünglichen Form Mogyorós.
Rusu und Croitoru verweisen auch auf Umfragedaten, denen zufolge sich die Mehrheit der Stadtbewohner gegen jegliche Umbenennungen ausspricht. Um Politiker nicht in Versuchung zu führen, die Verkehrsadern der Stadt umzubenennen, schlagen die Befragten vor, neuen Straßen „neutrale“ Bezeichnungen zu geben.
Die zweite Funktion von Toponymen ist ideologischer Natur. Sie ist in traditionellen Gesellschaften nicht bekannt und setzte sich erst in der Moderne ganz durch, als die „Erbauer“ der Nationalstaaten begannen, Toponyme als Mittel der „staatsbürgerlichen Erziehung“ zu nutzen.
Die Namen der Straßen werden aus dem Pantheon der „Helden der Nation“ (hauptsächlich Politiker, Militärs und Kulturschaffende) gewählt, oder es werden historische Ereignisse und wichtige gesellschaftliche Werte verewigt. Die ideologische Funktion führt zwangsläufig dazu, dass es bei einem politischen Regimewechsel zu Umbenennungen kommt, die dann wieder Probleme bei der räumlichen Orientierung nach sich ziehen.
Wie das Beispiel des Moghioroș-Platzes zeigt, haben die Benennungen kaum einen echten „Erziehungseffekt“ – die Leute wissen oft nicht, nach wem die Straße benannt ist, in der sie wohnen. In praktischer Hinsicht erfüllen die ideologischen Namen zwar die Funktion der Orientierung in der Stadt, aber nicht besonders gut – erstens, weil sie sich immer wieder ändern und zweitens, weil sie keinen Bezug zu relevanten Orten in der Nähe haben.
Die Politiker lassen sich durch solche Erwägungen jedoch nicht beirren. Kaum sind sie an der Macht, fangen sie an, Namen zu ändern. Das Beispiel der Toponyme, bei denen die Ideologie der praktischen Funktion immer wieder im Weg steht, zeigt: Wenn Marx´ Bestimmung der Praxis als Wahrheitskriterium zutrifft, dann ist auch seine Definition der Ideologie als falsches Bewusstsein richtig.
Sergius Ciocanu erforscht die frühe Geschichte von Chișinău. Er hat neun Straßen aus den Zeiten des Fürstentums Moldau identifiziert, die ihren Namen noch vor 1812 erhielten, als Bessarabien Teil des Russischen Zarenreichs wurde. Zwei von ihnen – die Sârbească (Serbengasse) und die Sfântul Ilie (Sankt-Elias-Straße) – stechen dadurch hervor, dass sie heute noch existieren und niemals umbenannt wurden.
Beide Straßennamen sind für die damalige Zeit charakteristisch. Das Fürstentum Moldau war noch nicht in die Moderne eingetreten. Es war eine „traditionelle Gesellschaft“, in der die Straßennamen vor allem zur Orientierung dienten und sich deshalb auf relevante Orte bezogen, wie hier auf die Kirche Sankt Elias und das Wohnviertel der serbischen Gemeinde.
In der „imperialen“ Zeit von 1812 bis 1917 wurden die Straßen von Chișinău nach den Besitzern markanter Gebäude, nach Kirchen, Berufsbezeichnungen und Wohnquartalen ethnischer Gemeinschafen benannt. Das zeugt davon, dass die Idee „nationalpädagogischer“ Toponyme auch dem Russischen Zarenreich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fremd war.
Aus der frühen Zeit der Zugehörigkeit zum Zarenreich sind nur zwei Fälle einer ideologisch motivierten Benennung bekannt: Die „Judenstraße“ wurde in „Cahul-Straße“ umbenannt, und die Straße, an der die Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Kirche der Altgläubigen lag, erhielt den Namen „Kapellenstraße“, weil sie nicht nach dem Namen der Kirche benannt werden durfte.
In beiden Fällen wurde die „toponymische Unterdrückung“ nicht national, sondern mit der Religion begründet, die in traditionellen Gesellschaften als wichtigste „geistige Klammer“ diente. Auch der Umstand, dass sieben der neun heute noch bekannten Straßennamen aus der Zeit des Fürstentums Moldau (in russifizierter Form) übernommen wurden, spricht dafür, dass die russische Administration Bessarabiens nicht von der modernen nationalistischen Ideologie beeinflusst war. Dies lässt vermuten, dass die Namen, die die Straßen im ältesten Teil Chișinăus zur „Zarenzeit“ trugen, in vielen Fällen Übersetzungen der früheren moldawischen Namen waren.
Russische Ortsbezeichnungen des „modernen“ ideologischen Typs tauchten in Chișinău erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts auf. Die Kultur des Imperiums wurde nun durch die Gogol-, Schukowski-, Pirogow- und Puschkinstraße repräsentiert [Anm.: benannt nach den Dichtern Nikolai Gogol, Wassili Schukowski und Alexander Puschkin sowie dem Chirurgen Nikolai Pirogow]. Für den „Geist des Ortes“ interessierten sich die Administratoren Bessarabiens nicht besonders. Es kam ihnen nicht in den Sinn, die Straßen von Chișinău nach moldauischen Persönlichkeiten zu benennen, die einen bedeutenden Beitrag zur kulturellen Entwicklung des Imperiums geleistet hatten. Zu nennen wären hier etwa Petro Mohyla, der mit der Kyjiw-Mohyla-Akademie die erste Hochschule im Russischen Reich gründete, Dimitrie Cantemir, der als erster Gelehrter des Russischen Reichs der Berliner Akademie der Wissenschaften angehörte, und Alexandru Sturdza, dessen „Betrachtungen über die Lehre und den Geist der orthodoxen Kirche“ (1816) als erstes Buch eines Autors aus dem Russischen Zarenreich ein größeres Echo im Westen fanden.
Die Nationalideologie der Moderne, die sich erst in der Spätzeit des Russischen Reichs auf den Straßen von Chișinău zu manifestieren begann, kam dann in der Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1940 mit den „rumänischen“ Umbenennungen voll zur Entfaltung. Fast alle „russischen“ Toponyme wurden geändert, auch von altersher überlieferte, die auf die Namen moldauischer Bojaren zurückgehen.
1937 hatten nur noch neun Straßen – das entspricht acht Prozent – ihren alten Namen behalten. Die meisten davon waren nach Kirchen benannt. Die toponymische Struktur hatte sich grundlegend geändert: 93 der damals insgesamt 109 Straßen (85 Prozent) waren Persönlichkeiten gewidmet. Dabei fällt auf, dass nur 17 der Namensgeber (16 Prozent) in Bessarabien geboren waren. Alle übrigen – bis auf die russischen Schriftsteller Puschkin und Pawel Swinjin sowie vier Persönlichkeiten aus anderen Ländern – stammten aus Rumänien.
Die meisten von ihnen waren niemals in Chișinău. Um der rumänischen nationalen Agenda gerecht zu werden, löschte die lokale Administration die alte moldawische Toponymie von Chișinău aus, und die Erinnerung an das „russische Jahrhundert“ in der Geschichte der Stadt schien ihr erst recht nicht erhaltenswert.
Wie reagierten die Chișinăuer auf das topografische Desaster, das die rumänischen Behörden angerichtet hatten? Ganz einfach: Sie benutzten weiter die Namen aus der Zarenzeit. Der rumänische Schriftsteller Liviu Marian beschwerte sich 1926, es sei nicht möglich, an die gewünschte Adresse zu gelangen, wenn man dem Fuhrmann nicht den russischen Namen der Straße nannte. Daran hatte sich auch 1937 noch nichts geändert. Die in diesem Jahr erschienene „Übersicht über die umbenannten Straßen Chișinăus“ beginnt mit der Klage: „Nur wenige Stadtbewohner kennen die neuen Straßennamen.“ Das bestätigen auch die Annoncen in der zeitgenössischen Lokalpresse, in denen die rumänischen Straßennamen sehr oft durch die Namen aus der Zarenzeit ergänzt werden.
Beim Studium der Namen aus der Sowjetzeit
Dabei änderte sich nichts an der ausgeprägt ideologischen Struktur der Straßennamen. Die Liste der Persönlichkeiten, nach denen Straßen benannt wurden, zeigt nun eine deutlich antirumänische Tendenz. Nur sieben Personen waren rumänischer Herkunft – der moldauische Woiwode Stefan der Große (Ștefan cel Mare) und die Schriftsteller, die die Sowjetregierung zu Klassikern der moldauischen Literatur erklärt hatten (sie stammten sämtlich aus der Region östlich des Pruth, niemand aus der Walachei oder Transsylvanien). Wie in der rumänischen Zeit ist der Anteil der Persönlichkeiten aus der Region selbst nicht groß. Es sind insgesamt 34 (17 Prozent) – weit weniger als die Gesamtzahl der im Russischen Kaiserreich und der UdSSR geborenen Personen. Sie beläuft sich auf insgesamt 124 (64 Prozent), von denen 84 nie in Moldau waren.
Wir sehen: Wenn es darum ging, die „Peripherie“ in den Dienst der toponymischen Agenda des „Zentrums“ zu stellen, bestand kein großer Unterschied zwischen rumänischen „bourgeoisen Nationalisten“ und sowjetischen „proletarischen Internationalisten“. Weder diese noch jene wollten Chișinău das Recht zugestehen, die „lokale“ Erinnerung gleichberechtigt mit der Erinnerung der „Metropole“ zu pflegen.
1989 begann in Moldau die Revolution der nationalen Wiedergeburt. In den vier Revolutionsjahren – von 1989 bis 1992 – fanden 92 Prozent aller Umbenennungen statt. Insgesamt wurden nach 1989 534 Straßen umbenannt – das sind 77 Prozent aller Straßen, die am Ende der Sowjetzeit existierten.
Als positiv könnte vermerkt werden, dass die Anzahl der doppelt oder mehrfach vorhandenen Namen reduziert wurde. Statt 460 wie zu Sowjetzeiten sind jetzt „nur noch“ 200 (24 Prozent) aller 831 heutigen Straßennamen betroffen. Dahinter steht allerdings leider nicht das Bestreben, die Orientierung in der Stadt zu erleichtern – in der postsowjetischen Zeit sind bereits elf neue Straßen entstanden, deren Namen es doppelt gibt.
Die Struktur der Personennamen hat sich von Grund auf geändert. Stammten zu rumänischen Zeiten nur 16 Prozent der Namensgeber (11 Personen) und zu Sowjetzeiten 17 Prozent (34 Personen) aus der Region, so sind es heute 48 Prozent (142 Personen). Daran zeigt sich, dass selbst ein so fragiles Phänomen wie die moldauische „Souveränität“ einen eigenen erinnerungspolitischen Trend hervorbringen kann.
Wie sieht es mit dem „Personalanteil“ der früheren Metropolen aus, die keinen großen Hehl daraus machen, dass sie bereit sind, die einstige Provinz wieder unter ihre Fittiche zu nehmen, wenn auch vielleicht nicht in unmittelbarer Zukunft? Hier dominieren eindeutig die Rumänen. 95 Vertreter des derzeitigen Chișinăuer Straßenpantheons (32 Prozent) sind jenseits des Pruth geboren, und nur 34 (11 Prozent) repräsentieren das Russische Zarenreich oder die Sowjetunion.
Überraschend ist, dass Transnistrien mit der sehr geringen Zahl von nur zehn Persönlichkeiten (drei Prozent) vertreten ist, obgleich die „sowjetisierten“ Moldauer vom linken
Die Ideologie der Moderne, in der die Souveränität des Monarchen von Gottes Gnaden durch die Souveränität der zum Gott erhobenen Nation ersetzt wird, „weiht“ das Pantheon der Nationalhelden und benutzt die Geschichte als „Zivilreligion“. Die traditionelle Religion dagegen tritt in der modernen Gesellschaft meist in den Hintergrund. So behielten die Rumänen die Namen von fünf Straßen aus der Zarenzeit bei, die „zur Kirche“ führten, und fügten die Namen dreier eigener Metropoliten zur Nomenklatur Chișinăus hinzu; der Großteil der Umbenennungen war jedoch Größen der nationalen Kultur und Politikern gewidmet.
Weniger Zurückhaltung gegenüber religiösen Namen legt man im postmodernen Chișinău an den Tag: 35 Straßen wurden nach Kirchen, Klöstern, Heiligen, religiösen Feiertagen und Symbolen benannt. In ihrem religiösen Furor greifen die „Umbenenner“ auch zu offenkundigen Verfälschungen und verwenden Bezeichnungen, die Ursprünglichkeit und Authentizität vorspiegeln, während sie in Wahrheit fabrikneue Imitate sind. So wurden die Andrejewskaja-, die Iwanowskaja- und die Petrowskaja-Straße, deren Namen vermutlich auf die Zeit des Fürstentums Moldau zurückgehen, in Sfântul Andrei, loan Botezătorul und Sfântul Petru (Sankt-Andreas-, Johannes-der-Täufer- und Sankt-Peter-Straße) umbenannt, obwohl dort niemals Kirchen dieses Namens gestanden haben.
Der nostalgische Hang zu sakralem Prunk verträgt sich mühelos mit der Hinwendung zu den Rudimenten des Heidentums. Obwohl die Kirche den Aberglauben verdammt, gibt es im postsowjetischen Chișinău schon zwei Straßen, deren Namen eindeutig astrologisch konnotiert sind: die Zodiac [Tierkreis]- und die Capricorn [Steinbock]-Straße.
In Straßennamen, die Wohlstand (Belşugului), Glück (Noroc), jugendliche Unschuld und Reinheit (Florile Dalbe) oder Ehrfurcht vor den Vorfahren (Calea Moșilor) evozieren, scheint die vorchristliche Mythologie durch. Heidnische Wurzeln haben auch die Namen des Frühlingsfests Mărţişor oder des Epos Mioriţa, nach denen gleichfalls Straßen benannt sind – ebenso wie nach dem Baumeister Manole (Meșterul Manole), der der Legende nach eine in christlichen Augen blasphemische Tat beging: Er opferte seine geliebte Frau, um den Einsturz des Klosters abzuwenden, das er gerade baute.
Kann man die erwähnten Straßennamen als Reverenz an die „traditionellen Bindekräfte“ der vorindustriellen Gesellschaft bezeichnen? Ich denke schon. Vor allem, wenn man bedenkt, dass unter den neuen Straßen auch eine „Jägerstraße“ (Vânătorilor) ist, deren Name die Erinnerung an die urzeitliche Jäger- und Sammlerwirtschaft heraufbeschwört.
An die traditionelle Haselnussernte erinnern die Namen Alunelul-Park und Aluniș-Straße. Und wenn wir schon einmal im Wald sind, dürfen auch die Waldfrüchte und Beeren nicht fehlen, wie die Hagebutten- (Măceşilor), Brombeer-, (Murelor), Schlehdorn- (Porumbrele) und Himbeerstraße (Zmeurei) belegen. Auf das Sammeln folgt die Entwicklungsstufe des Fruchtanbaus, der durch Straßen repräsentiert wird, die nach dem herrlichem moldauischen Obst benannt sind: Aprikosen (Caișilor), Kirschen (Cireşilor), Birnen (Perilor), Pflaumen (Prunului) und Sauerkirschen (Vişinilor).
Die Walnussstraße (Nucarilor) erinnert daran, dass der Name dieser Nuss im [Deutschen und] Englischen – anders als im Russischen, wo sie „griechische Nuss“ heißt – von der Walachei, also Moldau, abgeleitet ist, wie es sich gehört. Und auch die geheiligte moldawische Tradition des Weinbaus ist in einer Reihe von Straßennamen verewigt: Trauben- (Poamei), Rebstock- (Butucului), Weinberg- (Drumul Viilor), Winzer- (Podgorenilor), und Weinkellerstraße (Cramei).
Die Traditionen der Agrargesellschaft werden durch Straßen verankert, die nach landwirtschaftlichen Tätigkeiten und traditionellen Gewerben benannt sind: Schäfer (Scutari), Pflüger (Plugarilor), Gärtner (Grădinarilor), Schnitter (Cosașilor), Schmied (Fierarilor), Köhler (Cărbunari), nicht zu vergessen der Taxifahrer des Mittelalters – der Fuhrmann (Cărăușilor).
Ein nicht wegzudenkendes Attribut des Landlebens ist der Brunnen. Auf ihn verweist der Straßenname Fântânilor, der 1992 auf dem Plan der moldauischen Hauptstadt erschien. Auch neue Straßen, die nach den mittelalterlichen Ständen der Kleinbojaren (Mazililor) und freien Bauern (Răzeșei) benannt sind, erinnern an längst vergangene Zeiten.
Die Umbenenner haben es auch nicht versäumt, einige Ränge des alten Heers (Roşiori, Pandurilor, Dorobanți) zu berücksichtigen, die sich unter Führung der Wojewoden (Voievozilor) im Kriegslager (Drumul Taberei) sammelten. Um zu erkennen, wie gut solche Namen zu einer modernen Stadt passen, muss man sich nur vorstellen, dass irgendein patriotischer Experte für historisches Reenactment im Moskauer Rathaus darauf verfiele, Straßen nach den Strelizen, Arkebusieren oder Kavalleristen zu benennen.
In diesen nicht einfach nur agrarischen, sondern betont vorindustriellen Kontext gehören meines Erachtens auch die 84 postsowjetischen Straßennamen, die an Naturphänomene erinnern. Hier sind die Fauna (mit elf Straßen) und die
Wer sind diese so naturverbundenen Menschen? Vertreten sie womöglich eine postindustrielle, ökologische Vision und wollen den Chișinăuern mit Hilfe „naturalistischer“ Straßennamen klarmachen, dass die industrielle Konsumgesellschaft in die Sackgasse geraten ist und kurz vor dem Untergang steht?
Ich würde das gern glauben, wenn die postsowjetische Verwaltung der Hauptstadt nicht auch einen Cluster von 72 Straßen mit religiösen, mystischen und sonstigen archaischen Namen angelegt und zugleich die Energetiker-, Computer- und Kosmonautenstraße vom Stadtplan getilgt hätte.
Ihren Höhepunkt erreicht diese Würdigung vorindustrieller und antiurbaner Werte meiner Ansicht nach in der Dorfrandstraße (Hotarul satului). Sie bestätigt nicht nur die ausgeprägt archaische Tendenz der Toponymik, die gegenwärtig in Chișinău praktiziert wird, sondern steht symbolisch für den Sieg des Dorfs über die Stadt, der auch in der Zusammensetzung der jetzigen politischen Klasse Moldaus zum Ausdruck kommt.
Es geht hier nicht darum, dass sich nach 1991 ein ethnokratisches Regime in der Weinbaurepublik etabliert hat. Und dass das Vorbild der Nachbarländer, die den ethnischen Deutschen Klaus Johannis zum rumänischen und den Juden Wolodymyr Selenskyj zum ukrainischen Präsidenten wählten, die Mehrheit der moldauischen Wähler nicht davon abhalten kann, ihre Stimmen nach dem Kriterium „Blut und Boden“ zu vergeben. Mein Punkt ist vielmehr, dass innerhalb dieser ethnischen Mehrheit ein Gegensatz zwischen den Vertretern „ländlicher“ und „urbaner“ Werte besteht und die urbanen Moldauer in diesem Konflikt kläglich unterliegen. Es genügt darauf hinzuweisen, dass alle sechs postsowjetischen Präsidenten Moldaus vom Land kommen. Wenn Leute mit traditioneller Mentalität in der Stadt die Macht erlangen, werden sie nicht selbst moderner, sondern passen die Stadt ihren Vorstellungen an, wie die oben erwähnten religiösen, volkstümlichen und ländlichen Straßennamen belegen. Zu Sowjetzeiten waren 20 Straßen nach Dörfern in der Umgebung benannt – und das hatte seinen Sinn, weil es der praktischen Orientierung diente. Nach 1991 stieg die Anzahl der nach Dörfern benannten Straßen in Chișinău auf 57, also auf das Dreifache.
Dass ethnische Minderheiten in Moldau praktisch von der Macht ausgeschlossen sind, kann ich zwar nicht rechtfertigen, aber ich kann erklären, warum es so ist. Woran es liegt, dass Moldauer städtischer Herkunft nur in seltensten Fällen bis zur höchsten politischen Ebene vorstoßen, ist mir hingegen unbegreiflich. Seit Ende der 1950er Jahre sind in Chișinău zahlreiche Menschen aufgewachsen, die zur ethnischen Mehrheit gehören und schon von Kindheit an die Werte der Moderne in sich aufgenommen haben. Die ältesten von ihnen sind sogar schon wieder im Ruhestand. Diese Leute haben viel bessere Startvoraussetzungen als ihre Altersgenossen vom Land, auch für eine erfolgreiche politische Laufbahn. Aber in der Praxis sind sie kaum in politischen Spitzenpositionen zu finden. Um diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, wäre eine eigene Studie erforderlich.
Stellen wir uns einmal vor, das Unmögliche geschähe und nach den Wahlen kämen in Chişinău die „Richtigen“ an die Macht – Politiker mit Ideen, die der Informationsgesellschaft mit ihren Herausforderungen angemessen sind. Sollten sie zugleich mit den vordringlichsten Aufgaben auch eine „Korrektur“ der Straßennamen in Angriff nehmen? Meiner Meinung nach sollten sie – wenn sie wirklich moderne Politiker sind – ein Gesetz verabschieden, das die Benennung neuer Straßen zum Vorrecht der Stadtbewohner erklärt und es Politikern strikt untersagt, sich mit solchen Dingen zu befassen. Das wäre vor der anstehenden Wahl am 5. November 2023 mein Wählerauftrag an die Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters von Chișinău.
Aus dem Englischen übersetzt von Anselm Bühling
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